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Am Morgen trank Henri im Gasthof einen Becher warmer Ziegenmilch und aß Piroschki, einen gebackenen, mit Muskat gewürzten Hefeteig mit Käsefüllung, und als Nachtisch eine in dieser Stadt unvermeidliche, Henri bisher unbekannte Köstlichkeit mit Namen Marzipan, aus geriebenen Mandeln und Zuckerwasser.

Auf dem Hof des Schulgeländes standen lang gestreckte Gebäude. Offenbar enthielten sie auch Unterkünfte, denn dort gingen junge Schüler ein und aus. Unter einem Dattelbaum saß eine Gruppe von unverschleierten Schülerinnen und lauschte einem Rabbiner, der sich beim Sprechen vor- und zurückbewegte. Henri schnappte seine Worte im Vorübergehen auf.

»… müssen wir bereit sein, aufgrund des Talmuds den Beweis zu erbringen, dass der Messias nicht erschienen ist. Wir warten auf ihn, den Heilsbringer. Ihr aber sollt lernen, euch zu solchen und auch allen anderen Fragen frei zu äußern…«

Henri betrat das mit leuchtend roten Fliesen ausgelegte Hauptgebäude. Hier herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Schüler und Lehrer, die nur aufgrund ihres Lebensalters zu unterscheiden waren, liefen über Flure und Treppen. Henri fragte einen Studenten, wo er den für die Kabbala-Lektionen zuständigen Oberrabbiner finden könnte.

»Im letzten Gebäude. Ihr müsst die Treppe dort bis ganz unters Dach gehen. Hier unten werden nur allgemeine Theologie und Rhetorik gelehrt.«

Henri fühlte sich schon selbst wie ein Student. Und das war ein ganz neues Gefühl für ihn, der sich bisher durch bitterernste Schlachten geschlagen hatte und nun im dreiundvierzigsten Mannesjahr war. Nachdem er die Marmorstufen bis unters Dach hinaufgeschritten war, trat er in einen Gang, der sehr heiß und sehr still war. Ein alter jüdischer Lehrer verwies ihn an das letzte Studierzimmer auf dem Gang.

»Aber Ihr müsst warten. Mordechai hält noch Unterricht.«

Henri spürte seinen trockenen Mund und holte sich von einem Wandbrunnen einen Becher Wasser. Er musste einen Messinghahn mit Holzgriff drehen, und das Wasser aus dem rechteckigen Behälter schmeckte herb und kühl. Aus dem Studierzimmer hörte er die Stimme des Lehrers.

»… Nehmt das Siddur, unser gewohntes Gebetbuch für die Werktagsgebete. Und nehmt danach das Machsor mit den Gebeten für die Festtage, die im jetzigen Monat Tammus anstehen. Die liturgischen Texte lesen wir in der hebräischen Quadratschrift, lasst Euch nicht ablenken vom schönen Bilderschmuck, denn er ist nur Zierrat…«

»Aber der Talmud, Meister, was ist damit? Wann zeigst du uns das wichtigste Sefer?«

»Geduld! Die sechs Ordnungen des Talmuds sind schwer. Wenn Ihr die Traktate verstehen wollt, müsst Ihr noch eine Weile studieren…«

»Stimmt es, dass er sich aus Mischna und Gemara zusammensetzt?«

»Oho! Da weiß ja jemand schon etwas! Nun, das stimmt. Der palästinensische oder jerusalemische Talmud und der babylonische Talmud bestehen tatsächlich aus…«

Henri war ans Fenster getreten und sah, wie sich unten im Hof eine Gruppe von Studenten um einen Jungen geschart hatte, der sich bemühte, ein flaches Widderhorn zu blasen. Aber das Schofar war zu schwer, und der Junge gab es unter dem Schubsen und Lachen der anderen auf. Als sich Henri wieder umwandte, stand vor ihm ein kleiner Mann mit einem weißen, strähnigen Bart.

»Wünscht Ihr zu mir zu kommen, Fremder?«

»Wenn Ihr der ehrwürdige Mordechai Mehem seid, der Oberrabbiner für die Kabbala-Schule?«

»Der bin ich.«

»Ich bin Henri de Roslin aus Frankreich. Mein Gefährte Joshua ben Shimon hat mich angekündigt. Und ich habe hier noch ein Schreiben an Theophil von Speyer, der an dieser Schule lehrt. Ich möchte die Geheimnisse der Kabbala lernen.«

Verwundert sah ihn der alte Gelehrte an. »Aber Ihr seid bereits ein erwachsener Mann! Es dauert Jahre!«

»Ebendeshalb will ich sie ja lernen. Denn in meiner Jugend ist mir diese Gelegenheit nicht zuteil geworden.«

»Nun – Ihr seht aus wie ein Christ.«

»Ich bin christlichen Glaubens. Aber meine Freunde sind anderen Glaubens. Juden und Araber. Sollte man das nicht von jedem sagen können?«

»Da habt Ihr Recht. Nun, wendet Euch an Theophil, er wird entscheiden, ob Ihr zu den Lektionen zugelassen werden könnt oder nicht.«

»Wo finde ich ihn?«

Henri wurde in ein benachbartes Gebäude geschickt. Dort wartete er in einem Raum, in dem auf lang gestreckten Tischen Thora-Wimpel lagen, weißes Leinen, auf dem mit buntem Seidengarn Buchstaben und Bilder eingestickt waren. Es war das Reich Theophils, des großen deutschen Gelehrten. Henri war froh, dass er tatsächlich in Toledo geblieben war. Er beugte sich über einen Wimpel, dort stand: »Er wachse heran zur Thora, zur Ehe und zu guten Werken. Sela!«

»Ah, du bist es, mein guter Henri! Sei mir willkommen!«

»Theophil! Wie ich mich freue!«

Henri hatte die Stimme seines väterlichen Freundes aus Speyer in seinem Rücken sofort erkannt. Er breitete die Arme aus. Theophil wirkte noch jung, obwohl er siebzig war, er hatte das Aussehen eines stolzen Edelmannes, nur sein langer Bart widersprach diesem Eindruck. Sein weißes Haupthaar lag wie ein Strahlenkranz um sein feines Gesicht. Er hatte den Tod seiner wunderbaren Frau Alma inzwischen wohl überwunden.

Die Männer umarmten sich mit gebührendem Respekt. »Ich soll dich von Joshua grüßen, Rabbi, oder ist er schon in Toledo eingetroffen?«

»Nein. Du erwartest ihn hier? Das ist eine Freude! Dann habe ich euch beide an meiner Seite wie Söhne! Was führt dich nach Toledo?«

Henri erklärte es dem Gelehrten in aller gebotenen Kürze. Theophils Gesicht wirkte daraufhin bekümmert. Er wackelte mit dem Kopf. »Ob die Kabbala etwas für einen Tempelritter ist, der sich seiner Feinde erwehren will, das weiß ich wirklich nicht. Ein solcher Wunsch ist noch nie an mich herangetragen worden. Aber ich werde mir Mühe geben, dir alles zu erklären. Das bin ich dir nach den Vorfällen in Speyer schuldig. Nur – das braucht Zeit! Du darfst nicht ungeduldig werden! Und auf keinen Fall darfst du die Schritte abbrechen. Wenn du anfängst, musst du bis ans Ende gehen – alles andere wäre verhängnisvoll.«

»Ich habe alle Zeit der Welt. Denn siehe, Theophil, in Frankreich will man mich nicht haben. Ich bin beinahe wie Ahasver, der verlorene Jude, der um die Welt irrt. Ich habe im Moment keine Heimat.«

»Das ist schlecht. Übrigens gibt es noch einen anderen Christen an dieser Schule, der die Geheimnisse des jüdischen Glaubens lernen will. Er heißt Ferrand de Tours – kennst du ihn?«

»Das ist ein Zufall – nein, ich kenne ihn nicht.«

»Er ist vor einigen Tagen angekommen. Ein Templer scheint er nicht zu sein, aber treu im Glauben. Obwohl…«

»Was denn?«

»Ich traue ihm nicht.«

»Hat er etwas getan?«

»Es ist eher der Blick seiner Augen. Aber urteile selbst. Da ihr beide neue Schüler seid, werdet ihr Gelegenheit genug haben, euch kennen zu lernen.«

»Wo finde ich ihn?«

»Er wohnt im Haus der Studenten. Ich bringe dich hin. Du kannst auch dort wohnen, wenn du willst.«

»Ich bleibe lieber in einem Gasthof in der Nähe.«

»Wie du willst.«

Als Henri dem französischen Christen gegenüberstand, verstand er sofort, was Theophil gemeint hatte. Ferrand de Tours konnte keinem Blick standhalten, seine Augen waren in ständiger Bewegung, und er wirkte unstet. Henri schüttelte dem etwa gleich alten blonden Franzosen, der ein auffälliges Gewand aus teurem grauen Tuch trug, die Hand und fragte unbefangen:

»Was hofft Ihr hier zu lernen, Ferrand?«

»Eine allzu direkte Frage! Hier haben die Wände Ohren, ich hüte gern meine privaten Motive.«

»Nun – habt Ihr etwas zu verbergen?«

»Auch dies ist keine Frage für die Begrüßung, ich zöge es vor, Ihr könntet diesbezüglich etwas dezenter sein.«