»Ferrand, Ihr solltet wissen, dass auch wir Christen nicht unfehlbar sind.«
»Vielleicht. Aber die Juden? Pah! Dass der Schöpfer des Himmels und der Erden in einer Jüdin Leib zu Fleisch wurde, als Säugling zur Welt kam, heranwuchs, um seinen Feinden überliefert und zum Tod verurteilt zu werden, nur damit er schließlich aufersteht und wieder in seinen göttlichen Zustand zurückkehrt, das alles sind für die kindliche Vernunft der Juden unvorstellbare Dinge! Und für uns Christenmenschen ist es die Offenbarung!«
Henri war es leid, den Franzosen zu besänftigen. Er dachte aber, dass die Juden in ihm einen erbitterten Feind haben mussten. Und plötzlich spürte er eine innere Unruhe, die ihm sagte, dass von diesem Mann eine Gefahr ausging. Gleichzeitig schalt sich Henri einen Narren. Sicher übertrieb er. Ferrand wirkte so jungenhaft, und er schien sogar Humor zu besitzen. Denn plötzlich sagte er:
»Aber ich bin auch nicht der Weisheit letzter Schluss! Ich muss noch viel lernen. Und deshalb bin ich hier.«
Als sie aus der Kirche traten, merkten sie, dass es ein besonders heißer und drückender Tag werden würde. Im Schulhof trennten sich die Männer im Bewusstsein, dass sie sich bald wieder begegneten.
Henri de Roslin begab sich sofort zu Theophil von Speyer. Es tat ihm körperlich wohl, die Gegenwart Ferrands abzuschütteln, der eine feindselige Stimmung verbreitete. Henri kannte solch anklagendes Pathos aus der Zeit der Kreuzzüge. Noch einmal fragte sich Henri, warum der Franzose ausgerechnet an dieser jüdischen Jeschiva war. Auch Theophil konnte ihm diese Frage nicht beantworten, nahm Ferrand aber in Schutz.
»Er fühlt sich unsicher in Toledo. Hier leben die Kulturen noch, anders als im übrigen Iberien, miteinander.
Noch! Ferrand weiß nicht genau, was er davon halten und wie er sich orientieren soll.«
»Aber warum lässt du ihn hier studieren? Er ist nicht wirklich am Judentum interessiert, das weiß ich mittlerweile.«
»Auch mich lässt man hier lehren«, erwiderte Theophil, »obwohl ich, wie du weißt, aus Deutschland bin.«
»Aber Ferrand beschreibt die Kabbala als dämonischen Unsinn!«
Theophil winkte ab. Er führte Henri vor dem Unterricht in der Schule herum, zeigte ihm Hörsäle, die Bibliotheken und ein großes Bad für den Lehrkörper. »Ihr seid die einzigen nichtspanischen und die einzigen nichtjüdischen Studenten hier. Es gibt dreihundert Schüler aller Altersklassen und dreißig Dozenten. Die Ausbildungszeit ist lang, die meisten schaffen den Abschluss nicht. Aber sie bekommen immer wieder ihre Möglichkeiten, wir kennen keinen Ausschluss von Studenten.«
»Rabbi, verzeih mir, meine Interessen sind sehr beschränkt. Sie liegen auf…«
»Ich habe verstanden. Lass uns in den Unterrichtsraum zurückkehren und beginnen.«
Henri war so gespannt auf das, was ihn erwartete, dass er Hitze in sich aufsteigen spürte. Er wusste, die Kabbala hielt viele Überraschungen bereit. Aber er war nicht auf das vorbereitet, was ihm in den nächsten Tagen widerfuhr.
Sein Lehrer Theophil begann vorsichtig und ganz allgemein.
»Die Kabbala gehört uns Juden. Sie behandelt die ersten fünf Bücher Moses. Aber auch alle anderen Gelehrten des Abendlands lehnen sich an die Kabbala an.«
»Auch die Alchemisten sind Kabbalisten. Und ich sehe sie mit Misstrauen«, sagte Henri.
»Aber hat nicht ein Alchemist mit seinen Formeln ein Gift ermöglicht, mit dem du deinen frevlerischen Papst beseitigen konntest? Das hast du mir selbst erzählt!«
»Ich vergesse es nicht. Ich habe deswegen immer noch schlechte Träume. Ich hätte Clemens selbst beseitigen müssen – mit einem kräftigen Hieb meines geschliffenen Schwertes.«
»Henri! Du hast genug im Kerker gelitten. An deinen Handgelenken sehe ich noch jetzt die Spuren der Ketten im Folterkeller von Fontainebleau. Wolltest du noch mehr Strafe?«
»Nein, gewiss nicht.«
»Auch die Alchemisten haben ihren Platz. Wir müssen sie nicht lieben. Aber sie lehren uns die Suche nach dem Herzen der Dinge, nach dem letzten Grund der Materie. Auf einer ähnlichen Suche ist jeder denkende Mensch.«
»Aber wir müssen die Abwege meiden.«
»Das stimmt. Dennoch bleibe ich dabei, dass die Suche nach den tatsächlichen Geheimnissen immer die sichtbare, vergängliche Welt übersteigen und zu den Sphären des Ewigen vordringen muss. Denn für uns Kabbalisten ist ein hebräischer Buchstabe ein Universum mit allen seinen komplizierten Beziehungen im Kleinen. Und das Universum ist mit seinen ineinander verketteten Lebensabstufungen ein kabbalistisches Alphabet.«
»Eben das will ich lernen, deshalb bin ich hier.«
»Nun – setz dich dorthin. Und höre mir zu. Glaube meinen Worten.«
Henri versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen. Von jenseits der Fenster fächelte der duftende Sommerwind heran. Aber Henri lauschte nur den Worten Theophils.
»Du musst zunächst wissen, dass die hermetische Wissenschaft von den Zahlen der reinste Ausdruck für die Intelligenz der Mysterien ist. Je höher wir stehen, desto einfacher wird das Rechnen, schließlich kommen wir an einen Punkt, an dem Zahlen Dinge in Aktivität und Dinge Ausdruck der Zahlen sind.«
»Es ist nicht einfach für einen verstandesgemäß denkenden Menschen wie mich, das zu verstehen. Aber deshalb bin ich ja in dieser Schule.«
»Also lass uns anfangen.«
»Ich bin bereit.«
»Was du zuerst wissen musst, das ist gleichzeitig das höchste Wissen. Am Anfang steht also das Ende. Ist das nicht paradox? Unsere Kabbala lehrt nämlich, dass es ein geheimes Schöpfungswort gibt. Aber dieses darf niemals preisgegeben werden. Wer es dennoch tut, ist der verächtlichste Verräter. Du musst dieses Schöpfungswort und seine kleinen Gehilfen also selbst herausfinden. Der Weg dahin ist lang – und auch gefährlich. Aber für dich ist er jederzeit offen. Denn du bist ein besonderer Mensch. Und wenn du es gefunden hast, dann stehst du wieder ganz am Anfang.«
»Was muss ich tun?«
»Zunächst einmal vergiss! Vergiss alles, was du weißt. Und lausche auf die Klänge. Hörst du die Klänge, die die Schöpfung erfüllen?«
»Du meinst das Leben auf den Straßen dieser Stadt, dieses Landes, des Erdkreises?«
»Ich meine die Klänge der Schöpfung! Manchmal genügt eine Silbe.«
»Ich weiß nicht, ob ich das verstehe…«
Theophil lächelte in einer Erinnerung. »Ich kannte jemanden aus dem Lande Hind, er glaubte, die Silbe Om fasse alle Klänge des Universums zusammen. Er sprach diese Silbe ständig aus – Om! – und lauschte ihr nach. Er wollte daraus nicht einmal einen Schlüssel machen, um die Schöpfung aufzuschließen. Nein, nein. Er wollte nur diesen himmlischen Klang vernehmen und sich dadurch mit allem eins fühlen.«
»Humm?«
»Om! Es ist ein gutes Beispiel für einen Klang der Schöpfung. Aber dies ist nicht meine Lehre. Wir Kabbalisten lehren anderen Dinge.«
»Welche?«
»Wir glauben nicht an Töne, die Schwingungen in der Schöpfung aufnehmen und sie verstärken. Wir wollen uns nicht versenken und eins werden. Wir wollen keine Dämonen anrufen. Unsere Mystik ist nicht an Klängen orientiert, sondern am verborgenen Sinn der Worte und Eigennamen. Es sind heilige Worte. Und ihr Gebrauch ist sehr gefährlich.«
»Was könnte an Worten gefährlich sein?«
»Das wirst du merken, wenn sie vor dir stehen – die richtigen Worte. Es sind kleine Wesen, die aber riesige Ausmaße annehmen können. Sie nehmen von allem Besitz. Deshalb müssen wir lernen, verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen.«
»Wie mit Gefährten?«
Er nickte. »Du hast die allererste Lektion begriffen.«
»Was heißt Kabbala?«
Theophil musste nicht nachdenken. »Die Bedeutung ist wörtlich Überlieferung, aber sie meint: Enthüllung.«