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»Das ist wirklich ein schönes Beispiel für die Wirkung des Numinosen. Aber – ich wollte von der verborgenen Bedeutung sprechen. Wenn wir unsere Schöpfung und ihren Schöpfer, die viele Namen haben, in einem Zahlwort ausdrücken wollen, wie lautet es dann?«

»Ich… weiß es nicht.«

»Denk nach!«

»Tausend? Wegen des tausendjährigen Reichs, das uns verheißen worden ist?«

»Nein, einfacher. Das Zahlwort lautet Eins. Eins ist im hermetischen Denken der Kabbala Ursprung und Anfang von allem. Und was heißt auf Hebräisch Eins?«

»Achad.«

»Und wie buchstabiert sich das?«

»Lass mich überlegen! Die Buchstabenfolge ist: Aleph, Cheth, Daleth.«

»Richtig. Und wie ist der Zahlenwert dieser Buchstaben im Alphabet?«

»Eins, acht, vier.«

»Und nun addiere es.«

»Es ergibt die Zahl dreizehn.«

»Merke dir diese Zahl. Nun weiter. Was bedeutet das Wort Ahavah?«

»Es bedeutet Liebe.«

»Buchstabiere es.«

»Aleph, Heh, Beth, Heh.«

»Was ist der numerische Wert dieses Wortes im Alphabet?«

»Eins, fünf, zwei, fünf. Zusammengerechnet ergibt das ebenfalls dreizehn.«

»Sehr gut. Und was folgern wir daraus? Nun, Liebe und eins für Einheit sind wesensgleich. Mehr noch. Wenn wir zweimal dreizehn zusammenrechnen, dann ergibt sich?«

»Sechsundzwanzig.«

»Und genau diese Zahl entspricht dem numerischen Wert für ein besonderes Wort. Es ist das Wort der Wörter. YAHWE! Unser Wort für Gott!«

»Tatsächlich? Ich begreife langsam…«

»Nichts begreifst du! Denn die nächste Schlussfolgerung aus allem ist die Überlegung, dass Gott, wenn er der Ursprung, die Eins und die Einheit ist, auch die Liebe sein muss. Seine Natur ist also Einheit in unauflöslicher Verbindung mit Liebe. Das beweisen allein die Zahlen unnachahmlich! Und was bedeutet das für die Erschaffung der Welt? Liebe ist niemals selbstgenügsam, also ist Gott auch nicht selbstgenügsam. Liebe drängt danach, sich mitzuteilen. Also drängt es auch Gott danach, sich mitzuteilen. Wenn Gott Eins und Liebe ist, dann erklärt sich daraus die Erschaffung der Welt und des Menschen. Denn wer liebt, muss sich ein Objekt seiner Liebe schaffen. Gottes Objekt der Liebe ist die Welt, ist der Mensch.«

»Das ist einleuchtend.«

»Nichts ist einleuchtend, Goj! Du versuchst es zu verstehen! Aber du musst es spüren! Du musst mit dieser Erkenntnis eins werden! So wie Gott eins geworden ist mit Ursprung und Liebe.«

»Ich versuche es, aber bei Gott, ich bin Tempelritter und kein Mystiker!«

»Warum willst du die Kabbala verstehen?«

»Um aus dem Umgang mit den Worten eine Waffe gegen meine Feinde zu machen.«

»Also weiter. Ich will dir ein Beispiel geben, das du als Christ und Lateiner leichter verstehen kannst. Sehen wir uns das Wort Amen an. Christen, Mauren und Juden benutzen es. Aber niemand weiß, woher es kommt und was es bedeutet. Man übersetzt es gewöhnlich mit: So sei es. Aber das ist falsch. Nur die Kabbalisten besitzen dafür ein tieferes Verständnis. Und an diesem Beispiel wirst du lernen, welche Macht Worte ausüben können.«

»Ich bin begierig, es zu erfahren.«

»Wir Kabbalisten wissen, dass dieses geheimnisvolle Wort, dessen Wesen niemand erklären kann, eine beschwörende Bitte an unseren Herrn ist. Wie kommen wir zu dieser Annahme? Wenn wir uns die Buchstaben des Wortes ansehen – es sind Aleph, Mem, Nun –, dann sehen wir gleichzeitig die Anfangsbuchstaben von drei hebräischen Wörtern, die mit Gott in Verbindung stehen, mit Herr, Treue, König. Die verborgene Bedeutung von Amen, wenn wir uns die Botschaften der Buchstaben vergegenwärtigen, ist also: Herr, getreuer König! Und was ist der numerische Zahlenwert des Wortes Amen?«

»Er ist – einundneunzig.«

»Und seine Quersumme?«

»Zehn! Wie die Grundzahlen! Wie die Sephirot! Und wie die Ausflüsse Gottes, wie seine zehn Emanationen!«

»So ist es. Und die zehnte Emanation Gottes ist Malkuth, das Königreich.«

»Wer also Amen sagt oder denkt, der ruft den getreuen Gott in seinem Königreich an!«

»Du hast die vierte Lektion begriffen. Und wenn wir bei der zehnten Lektion sein werden, dann wirst du auf alles vorbereitet und für alles befähigt sein.«

Nach jeder abgeschlossenen Sitzung ging Henri noch einmal durch die Jeschiva, die Talmud- und Kabbala-Schule. Er schaute in die Klassen und sah überall junge Menschen, die auf Teppichen saßen und die Schriften studierten. Es gab Mädchenklassen und Jungenklassen. Im Vor und Zurück ihrer Oberkörper und im Gemurmel ihrer leisen Stimmen glaubte Henri ein Beispiel dafür zu sehen, wie Menschen im Einklang leben konnten. Was lernten Kinder, falls ihre Eltern sich eine solche Ausbildung überhaupt leisten konnten, in normalen christlichen Schulen – in Iberien, in Frankreich? Er wusste es nicht.

Er hatte nie eine Schulklasse betreten. Seine eigene Ausbildung hatte er im abgeschirmten Tempel von Paris erhalten. Als Vierzehnjähriger war er dort eingetreten. Und er hatte versucht, die schmerzliche Erfahrung eines vergeblichen Verliebtseins in ein Mädchen zu verarbeiten. Die großen Schriften der Antike und das Studium der Sprachen Latein, Griechisch, Aramäisch, Französisch und Spanisch hatten ihm dabei geholfen. Und an den Tagen, an denen das nicht genügte, um seinen Trennungsschmerz von Falkie von Inverness zu betäuben, war er auf den Turnierplatz gestürmt, um sich im Schwertkampf zu schulen und wütende Attacken auf Kampfpferden zu reiten.

Henri machte sich auf die Suche nach den Büchern, die ihm Theophil angegeben hatte. Aber er erfuhr von dem Bibliothekar, einem alten Kalligraphen aus Granada, der gerade den Text einer prächtigen Haggada abschrieb, die zum Vorlesen und Singen diente, dass die beiden Exemplare der Bücher Sefer ha-Sohar und Sefer Jetzirah an Ferrand de Tours ausgeliehen waren. Aber konnte der Franzose sie lesen, wenn sie auf Aramäisch geschrieben waren?

Henri suchte Ferrand auf.

Der Franzose empfing ihn mit ausgebreiteten Armen und breitem Lachen. Er hatte gerade Besuch.

Henri erblickte einen kleinen Mann, dessen würdevolle Bekleidung im seltsamen Kontrast zu seinem durchtrieben wirkenden, spitz zulaufenden Gesicht und den öligen Haaren stand. »Dies hier ist Manuel aus Arcos, einem der andalusischen Grenzorte des Südens im Kampf gegen die Mauren. Er brachte mir etwas.«

Henri nickte dem Fremden freundlich zu und betrachtete das reich verzierte Korporalkästchen, das Ferrand ihm entgegenstreckte. Er erkannte es. Wo hatte er es bereits einmal gesehen? Es fiel ihm nicht ein, aber Henri wusste, darin lagen für den Gottesdienst die Sinnbilder der leinenen Tücher, in die Christus im Grab eingehüllt war.

»Eine wahrlich schöne Arbeit! Woher kommt es?«

Manuel sagte mit heiserer Stimme: »Aus Chiclana de la Frontera! Ich konnte es vor dem Zugriff der Mauren retten. Darin liegen neben dem quadratischen Leinen eng beschriebene Handschriften mit einem bedeutenden Inhalt. Aber davon müsst Ihr nichts wissen!«

»Natürlich nicht«, erwiderte Henri, unangenehm berührt von der wichtigtuerischen Art des Besuchers. »Ich wollte dich fragen, Ferrand, ob du im Besitz der Bücher bist, die ich zu studieren habe.«

»Ja.«

»Leihe sie mir bitte. Ich will darin die Lektionen nachlesen.«

»Du kannst Aramäisch? Denn in dieser Sprache sind die Bücher geschrieben.«

»Ich beherrsche es seit meiner Zeit als Knappe im Heiligen Land.«

»Auch ich habe den letzten Kreuzzug mitgemacht, Henri. Aber die Sprache der Juden lernte ich nie.«

»Vermutlich wolltest du es nicht. Aber mit diesen Kenntnissen ist es leichter, ihre Gedanken wirklich zu verstehen – und das willst du doch, nicht wahr?«