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Henri genoss das Bild des Friedens. Ferrand wollte in die Kirche. Henri verweilte noch einen Moment. Er sah Händler am Werk und schwarz gekleidete alte Frauen, die im Straßenstaub knieten und Schnecken verkauften, die in Körben vor ihnen lagen. An den Ständen des Seidenbasars wurden Einlegearbeiten, Keramik, grün und blau bemalte Tonware aus der Sierra und Teppiche aus den Bergen an die wohlhabenden Bewohner Toledos verkauft. Und nebenan saßen die einfachen Leute und aßen köstliche Gerichte, die auf offenen Herdfeuern oder Rosten der Garküchen zubereitet wurden.

Plötzlich überfiel Henri das Gefühl, die Stadt liege auf der Lauer wie ein großes, gefräßiges Tier. War es wirklich so friedlich hier? Lebten nicht die Mauren und die Juden unter einer ständigen Drohung? Sie passten sich an. Wussten sie, dass sie argwöhnisch beobachtet wurden?

Männer wie Ferrand de Tours waren ihre Feinde. Henri beschloss, dem Franzosen keinen Hass auf Andersdenkende durchgehen zu lassen.

Henri blickte zu der Baustelle hinüber. Dort entstand die neue Zeit. Er sah das rege Treiben. Nicht nur die Bauarbeiter schufteten. Auch die Bettler und die obdachlosen Kinder, die Neugierigen und Verkrüppelten, die Alten und Beschäftigungslosen hielten sich hier auf, wo vielleicht etwas zu ergattern war. In gebührendem Abstand von der Baustelle, wo an der Ostseite die Mauern schon zwanzig Meter hoch gewachsen waren, hatten sich offene Badestuben mit dampfenden Bottichen angesiedelt. Handwerker boten ihre Dienste an, schilfbedachte Schankhäuser mit offener Theke, Fässern mit Rum und Jerez, herumliegenden Kalebassen und Kaminfeuer, über denen roher Schinken hing, luden zum Verweilen ein. Und in die Menge mischten sich ungeniert blutjunge freche Straßenmädchen, die unter den Arbeitern und Besuchern der Baustelle ihre Kunden fanden.

Henri ging durch das provisorische Portal in die Schatten der Kirche hinein. Er suchte Ferrand und sah ihn in der Ferne auf der Betbank einer Kapelle knien. Im dämmrigen Innenraum herrschten die rotbraunen Kutten von Hieronymiten vor. Henri ging zu einer Seitenkapelle, in der es still war, und versenkte sich inbrünstig in sein eigenes Gebet. Erst als die Glocke im Ostflügel dumpf anschlug, kam er wieder zu sich. Er sah auf und erhob sich, seine Beine schmerzten vom langen Knien.

Langsam ging er den Mittelgang der Kirche entlang bis hin zu den offenen, noch unvollendeten Mauern. Wie hoch ragten die weißen Marmorsäulen! Wie reich verziert waren die Kapitelle! Wie feierlich leuchteten die vielen hundert Kerzen in dem ausladenden Langhaus! Wie anmutig blickten die Heiligenfiguren, in deren Abbildungen nur die Ungläubigen Götzenbilder und das Urverbotene erblicken konnten!

Wie viel Schönheit, dachte Henri, ist hier zusammengekommen! Er fühlte sich wohl und geborgen.

Aber als er hinüberschaute in den Teil der Kirche, die Reste der Moschee barg, und dort die Muslime sah, die auf ihren Teppichen lagen, da musste er an das Leid denken, das der Glaube manchen Menschen zufügte. Auch den Juden! Und er dachte weiter: Ist die Pracht hier vielleicht nur falscher Pomp, der den weltlichen Fürsten zugute kommt? Soll vielleicht damit gar der wirkliche himmlische Herrscher hinweggedrängt werden, damit seine Botschaft die Herzen nicht mehr erreicht?

Wie komme ich dazu, etwas Derartiges zu denken!, rief sich Henri zur Ordnung. Aber er konnte den Eindruck nicht mehr abschütteln, dass in den monumentalen Ausmaßen dieser neuen Kathedrale mit ihren sich abzeichnenden fünf himmelhohen Schiffen etwas sehr Anmaßendes lag. Als müssten die Auftraggeber ihre eigene Verlegenheit im Glauben mit tönenden Gesten vertuschen.

Er verließ die Kirche und wartete auf Ferrand. Draußen schlug ihm die Hitze entgegen. Er versuchte, die bösen Gedanken zu vertreiben, und blinzelte in die tief stehende Sonne. Das Treiben, das er sah, empfand er als tröstlich. Es war, als verabreichte das Leben selbst ein reinigendes Bad.

Als Ferrand kam, wollte er ihm etwas erzählen. Aber Henri spürte keine Lust zuzuhören. Er wollte nur einfach im Geschrei der Menge sein, in ihren Bewegungen, in den Gerüchen und Geräuschen. Er wollte sich durch ihre Lebendigkeit seiner eigenen Lebendigkeit versichern lassen.

»Jetzt wird es ernst, Henri. Wir nähern uns den tiefen Dingen.«

»Ich höre, Theophil.«

»Nimm und lies!«

Henri blätterte in dem dicken Folianten, bis er an die Stelle kam, auf die Theophil deutete.

»Vom Anfang«, so stand da, »wird gesagt: ›Im Ebenbild Gottes erschuf er den Menschen‹, und wieder: ›In Ähnlichkeit Gottes machte er ihn.‹ Als sich aber die Menschen versündigten, verwandelte sich das Ebenbild, dass es immer unähnlicher wurde dem Urbild. Von da an war der Mensch der Furcht der wilden Tiere Untertan. Denn am Anfang trugen alle Wesen der Welt die Augen aufrecht, und vor ihren Blicken stand das Bild des himmlischen ›Heiligen‹, vor dem allein sie Furcht und Zittern kannten. Erst nach der Versündigung des Menschen geschieht es, dass jenes himmlische Urbild sich ihnen verwandelt und sogar von ihnen weicht, und die bewirkt, dass die Menschenkinder andere Wesen fürchten können. Denn erst, wenn die Menschenkinder der Sünde verfallen, können die wilden Tiere über sie Herrschaft gewinnen, dieweil sie das göttliche Urbild nicht mehr an ihnen schauen.«

»So wäre Gottes Ebenbild auch in der Schlange?«, wunderte sich Henri aufgewühlt. »Es war doch der Versucher, der Teufel!«

»Die siebente Lektion«, erklärte Theophil ruhig, »ist die Endstufe der Vorbereitung. Wenn du sie verstanden hast, wirst du selbst voll erwacht sein.«

»Aber du kannst doch nicht sagen, dass der Teufel Gottes Ebenbild ist. Ich habe sogar gehört, dass es Juden gibt, die die Schlange mit Jesus, dem Messias und unserem Erlöser, gleichsetzen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es eben.«

»Nein, du weißt es nicht. Du hast es vielleicht gehört. Aber Nichtbegreifen ist ebenso schädlich wie Vermutungen anzustellen über etwas, das man gehört hat von jemandem, der es von jemandem gehört hat. So weit die Antwort auf deine unkundige Frage. In der Tat aber hast du Recht! Denn die Wörter für die Schlange, Nachosh, und für den Messias, der noch kommen möge, Meschiah, bilden nach dem hebräischen Alphabet beide den Zahlenwert dreihundertachtundfünfzig. Wenn wir diese Zahl auf eine Quersumme unter zehn zurückführen, ergibt es sieben – die letzte Station der Schlange, die aufgerollt wird und den Menschen zu höherem Bewusstsein führt.«

»Auch diese Lektion trägt die Zahl Sieben.«

»Richtig.«

»So verstehe ich nun: In der Versuchung war der Urgrund der Geburt des Messias. Und selbst der Teufel kann nicht leugnen, dass ein göttlicher Funke in ihm steckt. In der hebräischen Zahlenmystik«, sagte Henri dann nachdenklich, »scheint es nichts zu geben, das wie Abfall weggeworfen wird. Nein, falsch. Besser ist es, zu sagen, es gibt darin nichts, was keine Bedeutung besitzt.«

»Und wodurch kommt das?«

»Vermutlich, weil das hebräische Alphabet – wie ihr glaubt – von Gott selbst herrührt. Und warum sollte Gott etwas Nutzloses geschaffen haben?«

»Die Schöpfung ist von einer mathematischen Reinheit, mein Sohn. Diese Vorstellung ist nicht nur poetisch und schön. Sie erklärt auch, warum wir Kabbalisten glauben, den Wahrheitsgehalt des Seins überprüfen und seinen tiefen Sinn verstehen zu können.«

»Ist es das, was du als die wahre Erkenntnis der Emanationen des Ur-Einen bezeichnet hast?«

»Du verblüffst mich, mein Sohn. Denn damit hast du die siebte Lektion schon verstanden und befindest dich auf dem Weg in die achte Lektion. Diese folgende Lektion spricht das Ich an. Es ruht im Herzen aller Wesen – ich sagte, aller Wesen. Das steht in diesem Abschnitt des Sohar, und das betrifft den Menschen genauso wie die Ratte und den Grashalm. Von diesem Glauben darfst du kein Jota abweichen. Also keinen Strich breit.«