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»Sind wir damit in der achten Lektion?«

»Die achte Lektion besagt, dass die Dinge der Welt ihre Form allein in den zehn Sephirot bekommen. Weil sie ihn in den zehn unaussprechlichen Namen Gottes haben. Wenn wir auf ihnen aufsteigen, gelangen wir vom Allgemeinen zum Besonderen. Zur Einheit. Im Blitz des Augenblicks schlägt dem suchenden und verstehenden Ich dann die Ewigkeit entgegen – und sie vereinen sich. Es ist ein heiliger Moment, der nur Erleuchteten zuteil wird. Ein Moment der Durchdringung von allem Festen, Verhärteten. Diesen Herzschlag haben auch deine Gefährten verspürt und ihn ausgenutzt, als sie die unüberwindlich scheinenden Mauern deines Donjons in Fontainebleau öffneten, als ihr geheimes Wissen die entscheidende Verbindung einging und die Steine erweichte. Vielleicht wussten sie nicht einmal etwas davon und glaubten nur, die Zeichen der geheimen Steinmetze zu deuten. In Wirklichkeit aber fielen Augenblick und Ewigkeit zusammen und weichten die Materie zu etwas Geistigem auf.«

»Ich habe eine solche Empfindung stets in der Sainte Chapelle auf der Seineinsel gehabt.«

»Ein unvergleichlicher Moment, nicht wahr? Und da du offensichtlich solche Momente schon kennst, sind wir schon bei der neunten Lektion angelangt.«

»Theophil, ich muss dir etwas berichten. Ich habe ein ungutes Gefühl. Es könnte sein, dass sich etwas über den Köpfen der Juden Toledos zusammenbraut.«

»Unsinn! Wir leben gut angepasst in dieser Stadt! Und einfach war es nie an der Seite der Christen.«

»Ich habe mit Ferrand gesprochen. Er hatte Besuch von einer kleinen Ratte. Sie hecken irgendetwas aus.«

»Aber Henri!«

»Du willst nichts davon hören?«

»Nein!«

Als Henri das nächste Mal mit Ferrand zusammentraf, wurde sein Verdacht bestätigt.

Ferrand erzählte: »Ich habe Beweise dafür, dass die Juden planen, die Brunnen Toledos zu vergiften. Dasselbe haben sie schon in der alten Stadt Ocana getan, dort herrscht seitdem das Fieber. Jetzt werden sie es hier versuchen. Schon sind geheime Boten eingetroffen, die Gift in kleinen Paketen und in engen, zugenähten Ledertaschen überbrachten. Wir müssen sie unbedingt daran hindern, Henri de Roslin!«

»Woher wollt Ihr solche Beweise haben?«

»Manuel – Ihr habt ihn kennen gelernt – ist im Besitz von Dokumenten, die das eindeutig belegen. In Aramäisch abgefasste Schriften. Er hat sie mir aus Ocana gebracht – Ihr habt doch das Korporalkästchen gesehen? Es sieht unschuldig aus. Aber es enthält furchtbare Pläne. Wenn wir die schändlichen Juden nicht daran hindern, dieses Verbrechen zu begehen, werden wir alle sterben!«

Henri musste sofort wieder an den Großmeister des Santiago-Ordens denken. »In diesem Korporalskästchen liegen die Beweise?«

»So ist es.«

»Aber Ferrand – ich kann das nicht glauben! Das sind doch Hirngespinste!«

»Hirngespinste? Lest doch! Ich gebe Euch alles! Und wäre es etwa das erste Mal, dass die Juden ein solches Vergehen versuchen? Nein! Sie haben Anweisung von ihren Rabbanen, das Gift in Brunnen und Quellen zu träufeln. Sie treffen sich überall mit ihren Glaubensgenossen auf geheimen Versammlungen. Und dann handeln sie. Sie haben es immer wieder getan!«

»Ich möchte das Beweismaterial sehen!«

»Natürlich, natürlich! Kommt heute Nacht in meine Stube. Nach der Mitternachtsmette. Dann zeige ich Euch alles!« Ferrand de Tours trat nahe an Henri heran und sah ihn beschwörend an. »Mein Freund! Lasst uns nicht streiten! Die Christen dieser Stadt sind in größter Gefahr! Wir müssen Seite an Seite stehen!«

»Ich komme nach Mitternacht, Ferrand!«

Als Henri Ferrand aus den Augen verloren hatte, schwirrte ihm der Kopf. Er glaubte nicht an das, was der Franzose ihm erzählt hatte. Und diesem Manuel konnte er schon gar nicht trauen. Er erinnerte sich deutlich, dass er ähnliche Gerüchte schon einmal gehört hatte. Es war im Jahr 1307 in Speyer gewesen. Henri sträubten sich die Nackenhaare bei dem Gedanken daran, was damals passiert war. Er begriff in schmerzhafter Klarheit, dass Ferrand, wenn sich seine negative Meinung über diesen bestätigte, eine Gefahr für das gesamte jüdische Ghetto Toledos war. Und für die Schule ganz besonders!

Er musste unverzüglich etwas tun!

Sollte er mit Theophil darüber sprechen? Aber der schien kein offenes Ohr dafür zu haben. Wenn doch Joshua ben Shimon an seiner Seite wäre!

Ferrand de Tours empfing ihn um Mitternacht. Henri fiel sofort auf, wie bleich und müde Ferrand wirkte. Litt er selbst unter dem Verdacht, den er ausstreute? Henri war nicht darauf vorbereitet, dass auch Manuel anwesend war. Doch die Ratte wartete im Halbdunkel des Raumes.

»Sieh hier!« Ferrand hielt ihm ein Pergament vor die Augen.

»Eindeutige Beweise!«, sagte Manuel lauernd. »Ich habe sie aus der Synagoge in Ocana entwendet. Du kannst Aramäisch, also lies!«

Henri setzte sich. Was in dem Dokument stand, ließ erneut Angst in ihm aufsteigen. Aber nicht Angst vor dem, was dort beschrieben war, sondern Angst vor denen, die versuchen würden, diese Lügen als Wahrheit zu verkaufen, um die Juden in der Stadt zu vernichten.

Er las: »Wir Juden von Ocana erzählen das Folgende: Unsere Juderia ist ein Ghetto, wie all die anderen. Und wir werden es verlassen. Wir leben im Elend. Ein Teil der inneren Stadtmauer von Ocana ist die Wand, die sich bis zum Zentrum der Stadt hin erstreckt. Wo die Straßen die Kahale verlassen, sind sie mit Toren versperrt. Leicht kann dieser Sektor abgeschlossen werden. Warum tut man das? Wir Juden sind in unseren Herzen friedlich und frei. Auf unserem Territorium herrscht ein unabhängiges Stadtleben, mit Gerichtsbarkeit, frei gewähltem Magistrat und Steuerverwaltung. Wovor haben die Christen Angst? Wir praktizieren unser eigenes Recht. Die Rechtslehrer sind unsere klügsten Männer, sie sind oberste Richter, Pontifex maximus, Steuerdiktatoren, Sittenwächter, Bücherzensoren und Jugenderzieher. Wir erziehen unsere Menschen zur absoluten Moral. Aus unseren Alhamas flossen der Krone jahrhundertelang die sichersten Einnahmen zu.«

Zunächst konnte er in diesen Worten nichts Verdächtiges erkennen. Er blickte die beiden anderen an.

»Lies nur, lies weiter!«, forderte Manuel ihn mit einer respektlosen Geste auf.

»Wir Juden zahlen jeden Tag Eintrittspreise, um Iberien sehen zu dürfen. Das muss aufhören. Wir zahlen bisher Kopfsteuer, direkte und indirekte Kollektivsteuer, Wegsteuer. Wir zahlen höhere Ausfuhrabgaben als die Christen, höhere Prozente von unseren Kreditgeschäften, entrichten in vielen Gemeinden noch Naturalabgaben und sind zur Quartierpflicht gezwungen. Weshalb? Sind wir Menschen zweiter Klasse? Zu alldem kommt noch eine besondere Abgabe in Höhe von dreißig Enari als Rückzahlung der dreißig Silberlinge, die einer von uns einst gestohlen haben soll! Und es heißt: Wir müssen in Erinnerung an den Tod des christlichen Hochstaplers Jesus Christus, der zu Recht von den Juden gekreuzigt wurde, in Gold zahlen, und man ordnet an, das im besten Wert zu tun. Um uns die Herrscher günstig zu stimmen, schließen wir mit ihnen komplizierte Geschäfte ab. Wir schießen der Krone große Summen vor, dafür verpfändet der Monarch der Gemeinde die Einnahmen aus christlichen Gebieten. Aber wir müssen diese Gelder selbst einziehen! Und dieses Tun ist immer die Ursache großer, gewaltsamer Übergriffe gewesen! Das muss ein Ende haben, und so müssen wir Iberien jüdisch machen. Wir wollten unsere finanzielle Unentbehrlichkeit ausnutzen, um individuelle und kollektive Freiheit zu erkaufen. Aber sie haben uns immer nur diffamiert. Und so sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir uns vom Joch der Christen befreien wollen! Wir werden über unseren Schatten springen und sie töten. Denn wir sind das Volk Adonais, des Herrn! Und nicht sie! Wir fangen an in Ocana, und von dort gehen wir nach Toledo. Und bald gehört uns ganz Altkastilien! Amen!«