Joshua hatte beschwörend gesagt: »Uns genügt es, den Namen zu kennen, um damit Macht über seinen Besitzer zu bekommen. Es muss aber der wahre Name sein. Denn hinter jedem Wesen oder Ding steht eine Idee, die es formt – nomen est omen. Lerne diese Macht zu erkennen und für dich zu nutzen! Schmiede eine Waffe gegen deine Feinde daraus! Dann wirst du überleben!«
Henri wurde in seinen Gedanken unterbrochen und konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten. Das Schiff wurde hin und her geschleudert. Er blickte in die bleichen, erschreckten Gesichter der Seeleute. Wenn die armen Seelen daran dächten, was ihnen in diesem Sturm wirklich passieren könnte, dachte Henri, würden sie vielleicht gleich über Bord springen.
Und als hätten sie seine Gedanken tatsächlich vernommen, konnten in der folgenden Nacht zwei Brüder aus Aiguës Mortes ihre Angst nicht länger niederkämpfen. Die jungen Matrosen zogen ein schnelles Ende in den sturmgepeitschten Wellen vor.
Die Matrosen mussten von dem erschreckenden Gedanken überfallen worden sein, dass es da draußen etwas gab, das alles Vorstellbare überstieg.
Etwas, das es auf sie abgesehen hatte!
Die an Bord starrten in ihr nasses Grab. Sie waren darüber so bestürzt, dass sie für den Rest des Tages ihre Arbeit nur unter Ermahnungen verrichten konnten. Auch der Kapitän wusste keinen Rat mehr. Der Priester schlug mit bleichem Antlitz seine Kreuze, und die meisten Matrosen taten es ihm nach.
Henri streunte in den Stunden nach diesem Geschehen auf Deck herum wie eine nasse Raubkatze. Die Kabbala-Schule in Toledo war wieder aus seinen Gedanken verschwunden. Es gab nur das Hier und Jetzt. Eine gnadenlose Hellsichtigkeit bemächtigte sich seiner. Er sah in die Fluten. Jetzt war er nicht mehr der verfolgte Tempelritter aus Schottland, der in Frankreich seine Feinde und seine Bestimmung gefunden hatte, er war ein hinfälliger, ein namenloser Seemann wie die anderen. In seinem Kopf mahlte und mahlte es ebenso wie draußen auf See. Er dachte an die Seelenqual eines Matrosen, der über Bord sprang. Eine solche Tat, dachte er schaudernd, muss einem absoluten Unglücklichsein entsprechen. Denn man tauscht ja nur eine Hölle gegen eine andere ein. Wäre ich zu einer solchen Tat fähig?
Nein, dachte er überzeugt, es entspricht nicht meinem Glauben, das Leben wegzuwerfen. Und nicht meinem Naturell, aufzugeben. Ich muss kämpfen.
Aber wie furchtbar das sein muss, dachte Henri. Unter Wasser hört man gewiss das Toben der See nicht mehr, in den Ohren braust dann etwas anderes. Die Luft in der Lunge reicht noch eine Weile. Und die Ertrinkenden würden den Atem anhalten – gegen jedes bessere Wissen. Obwohl sie den raschen Tod gewählt haben, wollen sie wenigstens diese Zeit noch aushalten, das sagt ihnen ihr Lebenstrieb. Oder was ist es, was dann zu ihnen spricht?
Etwas Tröstliches?
Etwas Gemeines?
Henri wusste es nicht. Er wollte aufhören, sich das vorzustellen. Hatte er nicht ganz andere Sorgen? Um seine letzten verbliebenen Tempelbrüder in Frankreich? Ob sie nach der Ermordung des Papstes und des Königs entkommen konnten? Ob die Kerker in Paris sich endlich leerten? Ob die Gerechtigkeit doch noch siegte? Aber er schaffte es nicht, seinen inneren Mahlstrom zu beenden. In ihm dachte es weiter…
… irgendwann ist keine Atemluft mehr da, und der Drang zum Atmen wird unerträglich. Wenn man nicht atmet, schwinden die Sinne, atmet man, dringt eisiges, salziges Wasser in die Lunge. Der Instinkt der Kreatur in uns, dachte er, führt sicher dazu, dass wir nach Luft schnappen. Nimmt man diesen Vorgang wahr, als löse man sich auf wie ein Farbfleck auf dem Ozean? Woran die beiden unglücklichen Matrosen wohl gedacht hatten? Wohl an das Nächstliegende. Zum Beispiel, ob noch ein Stück Segeltuch gesetzt werden kann, um dem Wetter zu trotzen. Wenn die Ertrinkenden den ersten unfreiwilligen Atemzug tun, beginnt der Todeskampf. Der Hals wird zugeschnürt wie von einem Galgenstrick. Man versinkt wie eine leckgeschlagene Galeere. In dem Gefühl, ein Felsklotz zu sein, der im Mahlstrom des Meeres auf den Grund sinkt, trudelt man ab und wird bereits tot sein, wenn man auf dem Grund aufschlägt.
Ja, so musste es sein. So schrecklich. Es wartete die Hölle.
Oder wartete ganz unten, auf dem Boden des irdischen Lebens, eine andere Helligkeit, ein neu geschenktes Leben, die Pforte zum Paradies?
Niemand auf der Erdenscheibe konnte etwas über diese Dinge wissen.
Über den Köpfen der Schiffspassagiere wanderte stumm und hell der Mond. Er lag waagerecht am Himmel und besaß die Form eines auf den Wassern des Nachthimmels fahrenden Nachens. Henri kannte die Mondsichel der südlichen Gefilde schon aus dem Heiligen Land und aus Arabien, sie kam ihm jetzt vor wie ein Kahn, der ihnen auf dem Weg in den Abgrund vorausfuhr. Er zog sie wie ein Lotse. Die Matrosen stießen sich an und zeigten mit den Fingern in die Höhe.
Kapitän Del Bosque sammelte seine Mannschaft um sich. Sie befanden sich alle im vorderen Teil des Schiffes. Nur ein Notdienst stand an den Brassen. Da die Sterne jetzt wieder zu sehen waren, holte der Navigator seinen nautischen Almanach, den er zuvor mit einem gotteslästerlichen Fluch von sich geworfen hatte, und versuchte, sich zu orientieren. Er hielt den Astrolab aus Holz und Messing, den ihm ein Maure aus Isfahan geschenkt hatte, an sein rechtes Auge.
»Was kannst du damit sehen?«, fragte ihn Henri.
»Ich habe eine drehbare Sternenkarte und darüber eine Scheibe mit Horizont, Höhenlinien und Himmelsrichtungen. Mit den gemessenen Gestirnshöhen kann ich die Zeit und den Ort bestimmen. Es ist ein Modell der Welt.«
»Und wo befinden wir uns, Navigator?«
»Im Nichts! Ich weiß es nicht besser auszudrücken.«
Er wendete sich ab und benutzte ein Viertelkreisinstrument, um die Höhe der Sterne über dem Horizont zu bestimmen. Während er seine Beobachtungen mit einem horologischen Rechenschieber verglich und in ein schon beschriebenes Äquatorium aus Pergament mit roter Tinte notierte, bangten die Zuschauer. Der Navigator murmelte: »Ich muss die Winkel bestimmen, die der Mond mit den Fixsternen bildet. Dann habe ich unsere Länge.«
»Wir müssen nach Westen, Mann! An die spanische Küste!«
Der Navigator versuchte es wieder und wieder. Dann seufzte er bekümmert und überließ das Schiff seinem Schicksal. »Es ist nicht Gottes Wille«, sagte er, »dass wir wissen, wo wir sind.«
Der Steuermann fluchte und stapfte nach Achtern zum Tiefenruder. Aber an eine kontrollierte Fahrt war im Augenblick nicht zu denken, denn die unbarmherzige Faust des Sturmes schob das Schiff widerstandslos hin und her, aber immer weiter hinaus auf die stockdunkle, schäumende See.
Schon längst hatten die beiden Schiffsjungen es aufgegeben, das Stundenglas der Sanduhr umzudrehen, denn es regierte ein anderes, gnadenloseres Uhrwerk als das von fallenden Sandkörnern, die sich zu einem unbarmherzigen Haufen aufschichteten.
Als die nächste Nacht hereinbrach und lange, zu lange, anhielt, taten die Seeleute das, was sie in ähnlichen Situationen immer taten. Sie waren damit beschäftigt, sich mit ihren wenigen verbliebenen Habseligkeiten zu umgeben. Auf kindische Weise bemühten sie sich, es sich erträglich zu machen. Ein Matrose balgte sich ausdauernd mit seinem Hund, ein anderer zählte seine vergoldeten Solidis und kupfernen Maravedis, ein dritter klammerte sich an seinen Talisman. Der Schiffsjunge betrachtete lange seine großen Hände. Der Gehilfe des Kochs legte die schönsten seiner Muscheln im Kreis um sich und veränderte von Zeit zu Zeit ihre Lage. Auf diesem Ozean war es in dieser Nacht so erschreckend, dass jeder sich bemühte, in seine eigenen kleinen Banalitäten abzutauchen. Jeder zog sich seinen persönlichen Kreis, um mit hilfloser Magie in der sichtbaren Welt zu bleiben.