Es war üblich, dass alle Anwesenden, die einer großen Gefahr entronnen waren, nach der Verlesung der Gesetzabschnitte vortraten und der göttlichen Vorsehung dankten. Henri war es ein Bedürfnis, sich diesen Menschen anzuvertrauen, er erzählte im aramäischen Dialekt, wie in seiner Wahlheimat nur wenige der Verhaftung durch die Inquisition entgangen waren, wie seit einem geschlagenen Jahr die Juden verfolgt und vertrieben wurden. Und wie das Gerücht Nahrung erhielt, auch die Tempelritter sollten nach den Juden nun zur Verantwortung gezogen werden.
Die Betenden in der Synagoge blickten ihn entgeistert an. Ein französischer Tempelritter unter ihnen! Sie wussten anscheinend nicht, wie sie diese Tatsache beurteilen sollten. Hatten die Ritter nicht im Heiligen Land Juden gejagt und Jerusalem, das goldene Heiligtum von Juden und Muslimen, an sich gerissen? Aber Theophil hatte Henri sofort erkannt. Er eilte auf ihn zu und umarmte ihn. Und schon war Henri in ihre Mitte aufgenommen.
Das gemeinsame Gebet wurde beendet und die Samthülle des heiligen Buches von allen geküsst. Dann verstaute man es wieder. Allmählich zerstreute sich die Gemeinde.
Theophil war eigentlich ein christlicher Gelehrter gewesen, der dann den jüdischen Glauben angenommen hatte. Er wurde von beiden Glaubensrichtungen respektiert, wenn auch die Christen nie ganz ihren Argwohn verloren hatten. Nach dem Ende des Gottesdienstes nahm er Henri mit in sein Haus.
Theophil hatte sich eines Tages entschlossen, freiwillig ins Judenghetto umzuziehen, und bewohnte eines der ältesten Häuser. Er besaß auch eine Frau, die selbst Jüdin geworden war. Alma war eine imposante Erscheinung. Sie trug einen weit ausgebauschten Rock aus weißem Atlas, in den alle Tierarten der Arche Noah eingestickt waren, einen Wams aus Goldstoff, Ärmel aus rotem Samt, gelb geschlitzt, auf dem Kopf eine hohe Mütze und eine Kette, an der Schaupfennige und andere Seltsamkeiten hingen. Alma begrüßte Henri mit warmer Herzlichkeit. Sie fragte ebenso wenig wie ihr Gatte nach dem Grund seines Aufenthaltes in Speyer und wies ihm eine Schlafkammer zu. Henri war müde und verabschiedete sich wenig später zur Nacht, denn der Ritt durch den Winter hatte ihm zugesetzt.
Am nächsten Morgen begleiteten ihn seine Gastgeber durch die Stadt. Während sie herumgingen, erzählte Henri von dem zunehmend beschwerlichen Leben in Frankreich.
Henri wusste wohl, dass Speyer vor zweihundert Jahren, als Jerusalem von den Sarazenen erobert worden war, als neuer Mittelpunkt der Welt errichtet wurde, mit einem Dom, der größer sein sollte als der Tempel Salomos. Er staunte dennoch nicht schlecht über das bunte Treiben an den Ufern des Rheins. In einer endlosen Schlange fuhren Schiffe mit bunten Wimpeln vorbei, Kisten, Ballen und Fässer wurden ausgeladen, auf kleinen Fahrzeugen an Land gebracht und verstaut. Von den Barken kam Geschrei, die Kaufleute stimmten mit ein, und das Brüllen der Zöllner, die in roten Röcken, mit weißen Zollstäbchen in Händen von Boot zu Boot hüpften, tat ein Übriges.
Alma hatte Henri untergehakt und zeigte auf alles. Da der Tag sonnig und überraschend mild war, schienen Henri zum ersten Mal seit Wochen wieder die Dinge des Lebens schön zu sein. Er dachte zwar auch an seine Tempelbrüder, die im Heiligen Land, aus dem er gerade erst zurückgekehrt war, in verlustreiche Gefechte verwickelt waren. Und an die Juden, die aus Frankreich von dem König mit haarsträubenden Beschuldigungen, mit seiner und seiner Tempelbrüder Hilfe gar, vertrieben worden waren. Aber Alma und Theophil holten ihn mit ihrer Aufgeräumtheit schnell wieder in die Gegenwart zurück. Die Häuser von Speyer schienen zu lachen, die fernen Berge diesseits und jenseits des Rheins leuchteten in der Sonne. Selbst noch im engen Handwerkerviertel und dem angrenzenden Bürgerviertel staunte Henri über die ungezwungene Fröhlichkeit der Menschen.
Er genoss alles, und das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein, hatte er schon lange nicht mehr verspürt.
Im Geschäftszentrum von Speyer, das als breite Straße auf die gewaltigen Portale des Doms zulief, befand sich ein Kaufmannsladen neben dem anderen, in den Erdgeschossen der Häuser gab es keine Fenster, sondern offene Bogentüren, man konnte hineinschauen und die ausgestellten Waren betrachten. Italiener boten Gewürze und Stoffe feil, Luxemburger Mützen und Mieder, Flamen Armspangen und Halsbänder, einheimische Vogelhändler Singvögel – und alle feilschten mit Kunden, rechneten mit den Fingern, wurden von hoch bepackten Markthelfern unterbrochen, die herumliefen, und setzten ihre laut vorgetragenen Gespräche dann umso nachdrücklicher fort.
Henri war begeistert von den bunten, hübschen Bildern, die nicht die Schwere des Pariser Stadtlebens besaßen. Sie standen in einem schönen Gegensatz zum disziplinierten Einerlei seines bisherigen Alltags im Tempel.
Sie mussten würdevollen Altbürgern im Samtrock mit goldener Halskette ausweichen, die jedoch Theophil respektvoll grüßten. Speyer konnte nur dann das neue Jerusalem sein, hatte ihnen ihr Bischof erklärt, wenn Juden hier ungezwungen leben konnten. Schmutzige Jungens, die Obst stahlen, waren ebenso zu sehen wie Männer in gelbledernen Wamsen, mit klirrenden Pfundsporen an den Stiefeln, junge Stutzer unter gefiederten Baretten, mit klingelnden Schnabelschuhen und seidenen Kleidern von geteilter Farbe, kichernde Mädchen mit hoch gebundenen Zöpfen und zupackende Arbeiter mit riesigen, schwieligen Händen. Und dazwischen bemühten sich kläffende Hunde aller Rassen, ihrer Freude auf ihre Art und Weise Ausdruck zu verleihen.
Henri schickte ein Dankgebet zum Himmel. Es war ein Morgen vor der Schwere des Osterfestes, den er in seiner lebensbejahenden Selbstverständlichkeit als Geschenk empfand, vor allem nach den Gefährdungen der vergangenen Zeit im Heiligen Land und der drohenden Verfolgung seines Ordens in Frankreich, der er sich entziehen wollte.
Seine entspannte Stimmung wurde aber hinweggefegt, als er die kirchlich lang gezogenen Töne einer herannahenden Prozession hörte. Er hatte beinahe vergessen, dass Speyer eine Stadt der Christen war, wenn auch mit einer großen Judengemeinde. Und schon näherte sich ein trauriger Zug von kahlköpfigen und trotz der Kälte barfüßigen Mönchen, die vom gewaltigen Dom herkamen, der einst von den salischen Kaisern gegründet worden war.
Alma und Theophil zogen ihn fort. »Im Heiligen Römischen Reich ist es eben nicht anders als in anderen christlichen Ländern«, erklärte Alma. »Die Umzüge sind schön, und ich liebe die Lieder, aber sie sind auch provokant. Denn hinter allem steckt immer der Vorwurf an die Juden, den Herrn Jesu umgebracht zu haben. So ist das schöne christliche Osterfest auch ein Fest der besonderen Gefahren für die Juden.«
Während sie den Platz verließen, drehte Henri sich noch einmal um. Die Mönche trugen brennende Wachslichter und Fahnen mit Heiligenbildern und am Ende des Zuges große, silberne Kruzifixe. An ihrer Spitze gingen rot berockte Jungen mit dampfenden Weihrauchkesseln. In der Mitte des Zuges unter einem prächtigen Baldachin erblickte Henri Geistliche in weißen Chorhemden, einer von ihnen trug in der Hand ein sonnenartig goldenes Gefäß, und während er lateinisch sang, klingelten an dem Gefäß Glöckchen, und die zuschauende Menge fiel auf die Knie.
»Alma hat Recht«, sagte Henri, »unsere christlichen Bräuche sind schön, aber sie wirken oft wie ein Angriff auf die Juden.«
»Deshalb hat mich der Herr Bischof, der Schutzherr der Juden, zu seinem Freund gemacht«, erklärte Theophil.
»Und das ist nötig, denn wenn der christliche Pöbel etwas zu viel getrunken hat, und das tut er beinahe unentwegt, dann steigt sein Blut, und es ist dann besser für einen guten Juden, sich nicht aus dem Viertel hinauszutrauen, bis die Luft wieder rein ist.«