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»Ist es nicht eine Schande«, sagte Henri, »dass wir uns so aufführen? Haben die Juden nicht das gleiche Recht auf alle diese Feste? Wir haben sie nicht erfunden! Im Gegenteil, die meisten übernahmen wir nur von ihnen.«

»In Speyer ist es so«, erklärte Theophil, »dass die Priester eine päpstliche Bulle erlangt haben, die die Juden verpflichtet, in der Nähe des Domes in einer eigenen ummauerten Stadt zu wohnen.« Henri blickte auf den mächtigen Dom aus rotem Sandstein, dessen sechs Türme in den Himmel zu ragen schienen.

»Wir mussten also hinter die dicken Mauern des Ghettos, das mit eisernen Ketten vor den Toren geschützt ist, um sie gegen den Pöbel abzuschirmen. Das letzte große Blutbad fand allerdings schon in eurem Jahr 1096 statt, als man zu einem Kreuzzug aufrief und manche behaupteten, die Juden stählen geweihte Hostien, die sie mit Messern durchstächen, bis das Blut herausfließe, und sie schlachteten zu Pessah kleine Christenkinder, um ihr Blut bei nächtlichen Gottesdiensten zu trinken. Seitdem gab es keinen Pogrom mehr. Und in unserer eigenen Erinnerung haben wir außer kleinen Scharmützeln, in denen allerdings auch Blut floss, nichts erlebt.«

»Gott sei gedankt«, sagte Alma und hob gleich darauf in der jüdischen Geste des Dankes die Hände über ihren Kopf.

»Damals starben allerdings fünfhundert Menschen, die meisten verbrannten in ihren Häusern, die Christen angesteckt hatten.«

»Im Heiligen Land haben wir es ebenso gemacht«, erinnerte sich Henri. »Wir haben, vielleicht aus gutem Glauben, gehaust wie Barbaren. Aber wir sind es doch, die getauft sind, und wir nennen die anderen Barbaren und Ungläubige!«

»Was wollt Ihr, Henri?«, fragte Alma und nahm wieder seinen Arm. »Ihr nicht und auch ich nicht – wir werden es nicht ändern.«

»Und deshalb können wir nichts weiter tun, als heute Abend ein schönes Pessah zu feiern«, sagte Theophil. »Dann wirst du auch Rahel kennen lernen, unsere jüngste Tochter, die wir bereits im jüdischen Glauben erzogen haben. Sie ist zwanzig. Und sie kommt aus Frankfurt am Mainfluss herüber. Mein Gott, sie ist so schön! Und wenn ich sie nicht bei Meyer Bechach gut aufgehoben wüsste, der ihr eine fundierte Ausbildung in den Sprachen gibt, ich könnte verzweifeln, dass sie in diesem Sündenpfuhl leben will!«

Je länger der Aufenthalt in Speyer dauerte, desto wohler fühlte sich Henri auch aus ganz persönlichen Gründen. Es war das erste Mal seit langen Jahren, dass er das Gefühl hatte, eine Familie um sich zu haben. Er dachte sehnsüchtig an seine eigene Heimat, sein Ziel Midlothian in Schottland, zurück. Vater und Mutter hatte er nie wirklich besessen, und er war früh in den Pariser Tempel aufgenommen worden, wo Ersatzväter ihn streng erzogen. Aber Theophil und Alma und auch die warmherzige Gemeinschaft der Juden in Speyer gaben ihm ein heimatliches Gefühl. Er war ihnen dankbar dafür.

Als es Nacht wurde, zündete Alma in ihrem Haus die Lichter an. Henri sah jetzt, dass sie alle Gegenstände besaßen, die in jüdischen Häusern vorhanden waren. Sie legte das bunt bestickte Tafeltuch mit den Goldfransen über den Tisch und darauf drei ungesäuerte Brote und sechs kleine Schüsseln mit den symbolischen Speisen des Pessah, das waren Lattich, Eier, Mairettich, Nüsse, Lammknöchelchen und ein Gebäck mit Zimt und Rosinen. Und sie füllte den zeremoniellen Kidduschbecher bis zum Rand mit Wein und stellte ihn auf einen zinnernen Sederteller.

Nach und nach trafen Rahel, die Tochter, ein jüdisches Ehepaar aus dem Ghetto namens ben Hiskia und schließlich Theophil ein. Rahel war wirklich so anmutig, wie ihr Vater erwähnt hatte, und Henri bedachte sie mit wohlgefälligen Blicken. Jeder bekam seinen vorgeschriebenen Platz zugewiesen. Alma zündete die Hawdalakerzen an und rückte die Besomimbüchse mit den Gewürzen zurecht. Die Gäste saßen da wie Kinder und sahen ihr zu.

Theophil begann bald aus der Haggada zu lesen, einem Buch der Sagen, Wundergeschichten, Gebete und Festlieder. Die Lichter der silbernen Sabbatlampe leuchteten warm. Und als Bedienstete die Nachtmahlzeit hereinschoben, man aß und roten Wein aus Bechern trank, in die heilige Geschichten der Juden eingraviert waren, und Theophil, der bereits zur Nacht gegessen hatte, fortfuhr, mal wehmütig, mal heiter vorzulesen, da konnte Henri nicht anders, als Rahel anzuschauen. Die junge Frau blickte zurück, in ihren braunen Augen standen viele Fragen. Woher kommst du? Wohin gehst du? Kannst du bleiben? Und Henri fragte stumm zurück: Weißt du überhaupt, wie schön du bist? Weißt du, wie mich deine Schönheit anrührt, in der sich stille Heiterkeit ebenso zeigt wie die leidende Innigkeit aller Jüdinnen? Und dann sprachen alle außer Henri im singenden Tonfall ein Gebet mit, und der Gast aus Frankreich schloss dabei die Augen.

Als Theophil an der Stelle war, wo die Kinder Israels ängstlich durch das geöffnete Rote Meer gehen und schließlich vor dem Berg Sinai stehen, da hob Alma eins der ungesäuerten Brote empor. Und Theophil unterbrach seine Lesung, und ben Hiskia sagte: »Das ist unsere Kost, die unsere Väter und Vorväter in Ägypten genossen. Jeglicher, den es hungert, komme und genieße. Jeglicher, der da traurig ist, der komme und teile unsere Pessahfreude!«

Ben Hiskia und seine Frau blickten dabei Henri an, und schließlich ruhten aller Blicke auf dem Tempelritter. Henri dankte ebenso mit Blicken. Er wollte eben, wie es der jüdische Ritus vorgab, sagen, dass die Juden dieses Jahr vielleicht noch als Knechte das Fest begingen, aber im kommenden Jahr schon als Kinder der Freiheit, das sei gewiss.

Da klopfte es an das Tor.

Alle blickten sich verwundert an, Rahel sah sogar erschreckt aus. Alma sagte: »Wer kann das sein? Jeder feiert doch in seinem Haus das Fest. Es müssen Fremde sein.«

»Öffne und schau nach«, erwiderte Theophil und rollte das Pergament in die Hölzer zurück, denn unerwünschte Blicke durften es nicht sehen.

Kurze Zeit später führte die Hausherrin zwei durchgefrorene Männer herein. Sie trugen weite Mäntel. Alma sagte: »Es sind Glaubensgenossen auf der Durchreise. Sie bitten darum, heute Nacht das Pessah mit uns zu begehen.«

Theophil stand auf. »Friede mit Euch. Setzt Euch in meine Nähe! Esst und trinkt! Ich möchte in der Lesung fortfahren.«

Die Fremden nickten flüchtig in die Runde und nahmen auf Stühlen Platz, die Alma von den Zimmerecken heranrückte. Henri dachte flüchtig, warum legen sie ihre Umhänge nicht ab, wahrscheinlich frieren sie noch immer. Und er lauschte wieder, wie die anderen, den Geschichten, die Theophil aus der erneut aufgerollten Pessah-Haggada, dem Buch der Sedernacht, vortrug.

Als er an die Stelle des Buches kam, wo von den Rabbis erzählt wurde, die sich die ganze Nacht über den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten unterhielten, bis ihre Schüler kamen, die Vorhänge aufzogen und sagten, es sei bereits heller Tag, da geschah etwas, das Henri einen Stich ins Herz gab. Eben noch schien alles vertraut und friedlich zu sein. Im nächsten Augenblick stand der Schrecken im Raum, der die Juden immer umschließt wie ein unausweichliches Schicksal.

Henris Blicke lagen auf Rahel. Und plötzlich sah er, wie ihr lächelndes, sanftes Gesicht erstarrte. Er bemerkte, wie alles Blut aus ihren Zügen wich, wie die Lippen bleich und die Augen noch größer wurden. Ein inneres Grauen schien sie überfallen zu haben, im Entsetzen wurde ihr anmutiger Leib stocksteif.

Henri wollte fragen, was sie habe. Aber er wagte nicht, Theophil zu unterbrechen. Die beiden Fremden hatten inzwischen ihre Umhänge abgelegt, Alma knabberte an dem ungesäuerten Brot, das Ehepaar ben Hiskia lauschte mit halb geschlossenen Augen. Die Kerzen waren beinahe heruntergebrannt.

Dann war die Lesung beendet.

Alma holte die Waschschüssel herein, und während sie den Gästen Wasser über die Hände laufen ließ, machte Rahel Henri ein Zeichen, er solle ihr nach draußen folgen.