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»Nichts außer Gott existiert. Was heißt das? Denn gibt es nicht das Böse in der Welt? Krankheiten, Erdbeben, schlechte Menschen, die aus dem Glauben heraus das Falsche tun?«

Der Scholar rieb sich die Augen und sagte: »Das gibt es überall, ja.«

Theophil blieb hartnäckig. »Wie kommt das Unvollkommene in die Welt? Indem Gott sich zurücknimmt. Er zieht sich für einen Moment zurück und lässt das banale Sein in die Welt. Wenn dies aber nur ein Teil der Schöpfung ist, kann es eben nicht von Licht durchflutet und göttlich sein – es ist unvollkommen.«

»Aber damit kann man ja alles erklären!«

Theophil hob die Hand. »Moment! Das bedeutet ja nur, dass alles, was jetzt noch unvollkommen ist, sich durch Gottes Rückkehr wieder vollständig manifestieren wird.«

»Das zeigt uns einen Gott, der sich bewegt, der sich in der Entwicklung befindet. Wie ist das möglich? Ist Gott denn nicht vollendet?«

»Man kann sagen, dass in Gott seit jeher zwei Lichter brennen. Ein gedankenloses und ein schöpferisches. Das erste ruht in sich und genügt sich selbst, das zweite bringt den Willen zur Schöpfung hervor.«

Henri musste einen unwilligen Moment lang an Manuel denken. »Verstehe ich es richtig, Meister, wenn ich sage, der Urgrund des Schlechten und Unvollkommenen, selbst ein so unwürdiges Wesen wie Manuel, ist ein Teil des Schöpfers selbst? Wie können dann die Menschen Schuld haben, wenn sie Böses tun?«

»Sie haben nur dann Schuld, wenn sie nicht bestrebt sind, das gedankenvolle Licht zu ergreifen und es über dem Bereich erstrahlen zu lassen, der sich bisher dem Guten versagt hat. Denn diese Möglichkeit besitzt jeder gedankenvolle, gläubige Mensch, und dazu verpflichtet ihn die Schöpfung. Dann geht der Prozess zu Ende.«

»Ist das die neunte Lektion?«

»Es ist die Voraussetzung. Die neunte Lektion besagt etwas, das daraus folgt. Es ist etwas, das dich besonders interessieren wird, denn damit wird dein aktives Wesen angesprochen. Und es wird dich ablenken von dem Unsinn, der in diesen Tagen durch deinen Kopf spukt, und dich auf dein wesentliches Interesse zurückführen.«

»Ich bin gespannt!«

»Diese Lektion besagt, dass mit jedem der zehn Grundzahlen auch die zehn Namen für Gott in der jüdischen Kabbala einhergehen. Und mit diesen zehn Namen gehen zehn dämonische Wesenheiten einher.«

»Dämonen? Aber sagtest du nicht am Anfang des Unterrichts, es gehe euch Kabbalisten nicht um Anrufung von Dämonen?«

»Sagte ich das? Kannst du das beweisen?«

»Wie sollte ich das beweisen können!«

»Also! Ich sagte es nicht. Oder ich sagte es, um dich in falscher Sicherheit zu wiegen und dich später zu beunruhigen und deine doppelte Aufmerksamkeit zu erlangen, nicht wahr? Denn tatsächlich sind diese zehn Dämonen das Aller wichtigste!«

»Was? Warum?«

»Wir können sie durch magische Praktiken anrufen und in unseren Dienst zwingen.«

»Ist das wirklich wahr?«

»Wir müssen sie nur vorher namentlich genau erfassen und anrufen.«

Henri konnte nur sprachlos zuhören.

Theophil hob den Finger. »Zehn Dämonen – zehn Lektionen. Jetzt sind wir kurz vor dem Ziel. Vor deinem Ziel. Mit der nächsten Lektion wirst du begreifen, wie du durch die Benutzung der wahren Namen Wesen und Dinge auf deine Seite ziehen kannst.«

»Ich bin so beunruhigt, Theophil! Im Moment hält mich alles davon ab, die Schriften zu studieren, denn ich ahne großes Unheil, das über uns kommt. Und ich finde bei dir kein Gehör.«

»Studiere die letzte Lektion der Kabbala, mein Sohn! Dann wirst du sehen, wie alles ins Lot zu bringen ist. Weiche kein Jota von deinem Ziel ab!«

»Ich werde versuchen, mich von allen äußerlichen Einflüssen freizuhalten, um deine Belehrungen wirklich verstehen zu können.«

»Wir sehen uns bald. Wenn du wirklich dazu bereit bist.«

Henri geriet in eine seltsame Stimmung. Er träumte viel und schlief schlecht. Theophils Worte hatten etwas in seinem Inneren ausgelöst. Sein Kopf war erfüllt mit magischen Bildern und düsteren Vorahnungen, mit Szenen voller Gewalt. Er fragte sich, ob er das Studium nicht aufgeben und zu den Waffen eines Tempelritters zurückkehren sollte. Im mannhaften Kampf konnte er das Geschick vielleicht zu seinen Gunsten beeinflussen.

Andrerseits erregten ihn die Geheimnisse der Kabbala. Und er versuchte sogar, das Numinose, von dem Theophil gesprochen hatte, für sich auszunutzen. Er rief die Namen seiner Feinde an und verwünschte sie. Als er durch solche Abendstunden hindurchgegangen war, glaubte er, im Fieber zu sein. Dann fiel ihm Manuel ein. Es blieben ihm noch drei Tage, um das Verhängnis für die Juden abzuwenden. Er beschwor den Namen der Ratte, er zog sogar sein Schwert und hieb nach dem eingebildeten Schatten dieses Betrügers und Verräters.

In manchen nächtlichen Träumen vernahm er ächzende Stimmen und Seufzer, so als erlägen seine Feinde reihenweise seinen Anrufungen und Verfluchungen.

Wenn der nächtliche Spuk verflogen war, kam Henri wieder zu klaren Gedanken.

Er beriet sich mit Joshua über seine Befürchtungen. Der Jude war ebenso besorgt wie er. Er war von einem Aufenthalt bei dem Sarazenen Uthman ibn Umar aus Cordoba gekommen, dort lebten Mauren, Juden, Christen noch friedlich zusammen, auch wenn der Geist der Reconquista schon die Köpfe zu vernebeln begann. In Toledo schien die Inquisition gegenwärtiger.

»Es ist überall das Gleiche«, sagte Joshua. »Sie fallen auf die unglaublichsten Anschuldigungen gegen uns Juden herein. Allein aus dem Grund, weil sie es glauben wollen! Sie brauchen so etwas von Zeit zu Zeit. Jetzt ist wieder ein solcher Moment gekommen, wo ihr Fieber steigt.«

»Was tun wir? Die Juden in der Schule sind nicht empfänglich für Warnungen. Es ist zum Verzweifeln!«

»Sie wollen es nicht hören, weil sie es schon zu oft durchlitten haben. Sie schließen Augen und Ohren und hoffen, die Gefahr so bannen zu können.«

»Vor allem die Kabbalisten! Und das erstaunt mich am meisten. Denn Theophil ist ein weiser, nachdenklicher Mann.«

»Was schlägst du vor, Henri?«

»Nun, wir haben gerade die Tage einer besonderen Heiligen, der Maria Magdalena. Die Christen dieser Stadt werden es drei Tage lang feiern. In dieser Zeit dürften sie keinen Sinn für Gewalt gegen die Juden haben. Aber danach umso mehr! Denn Maria Magdalena war die treueste Anhängerin Jesu Christi, den die Juden ans Kreuz schlugen. Christen werden diese Tat den Juden nie verzeihen. Und wenn sie einer daran erinnert, kocht ihre Wut auf. Besonders nach einem heiligen Fest.«

»Nun, ich weiß das. Ich weiß aber auch, dass Maria Magdalena die größte Sünderin war, Jesus musste sie von siebenfacher Besessenheit heilen.«

»Doch war sie die Erste, der sich der auferstandene Jesus im Grab offenbarte! Aber wir sollten nicht darüber disputieren, dazu bleibt keine Zeit. Was tun wir, um das Unheil abzuwenden, während meine Glaubensbrüder in den Kirchen feiern?«

Sean of Ardchatten, der in der Zimmerecke des Gasthofes saß und erneut damit begann, auf seiner dreilöchrigen, klappenlosen Querflöte zu blasen, der Schwögel, brachte Henri auf einen Gedanken.

»Was wäre, wenn wir diesen Manuel einfach beseitigen? Ich kann das übernehmen! Nun, nicht mit meiner Flöte! Ich besitze einen scharf geschliffenen Dolch, der gut durch zarte Hälse geht. Willst du ihn sehen, Meister Henri?«

»Schweig, Sean! Spiel weiter! Deine Melodien klingen weniger misstönend als deine Worte.«

»Es liegt an dem Instrument, ich habe es von meiner Guinivevre geschenkt bekommen. Wie lange habe ich das Mädchen schon nicht mehr gesehen.«

»Du wirst sie bald sehen. Denn wenn wir das hier überstanden haben, reisen wir nach Beaumont, und du darfst sie einmal küssen.«

»Sie ist nicht mehr in Beaumont, sondern lebt inzwischen beim Abt von Cadouin, Henri. Ob der mir erlaubt, sie zu küssen?«