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Der Rabbi schnaufte. »Und doch ist es so geschehen. Und ich kann es nicht rückgängig machen. Denn dieser Manuel ist tatsächlich verschwunden.«

»Der Homunculus ist verschwunden?«

»Ja.«

»Dann ist ja alles wieder gut!«

»Es gibt keinen Unhold und keinen Manuel mehr.«

»Vielleicht ist das eine gute Lösung«, entfuhr es Henri. »Es sei denn, man würde seine Leiche finden, Rabbi. Ihr könnt doch garantieren, dass dies nicht geschehen wird? Denn sonst geht es den Juden schlecht!«

»Ich habe ihn nicht umgebracht, Henri. Er ist einfach verschwunden. Die Stadt mit ihren unentwirrbaren Geheimnissen hat ihn verschlungen. Dunkelheit zu Dunkelheit.«

Henri wusste nicht, ob er dem Gemunkel trauen sollte. Die Geschichte war zu abstrus.

Ein Mann meldete sich zu Wort, den Henri kannte. Er hieß David ben Jonathan und war der erste in Toledo wirkende jüdische Gelehrte, der neben dem Talmud auch Astronomie und Geschichte lehrte. »Ich schreibe eine Weltchronik in hebräischer Sprache«, erklärte er. »Und ich will, dass der jüdische Geist sich aus den Fesseln der Mystik befreit. Wenn dieser Manuel in die Gestalt eines Untoten gezwungen wurde, oder gar wenn er ermordet wurde, wir also einen Kriminalfall haben, dann werde ich das höchstpersönlich aufklären. Wir Juden können uns keinen Verdacht gegen uns leisten. Nicht den geringsten.«

»Und wir dürfen unseren höchsten Gönner, Alfons den Neunten, nicht enttäuschen«, sagte Jakob Bassewi, der den Ehrentitel »Hofjude« trug, weil er die Burg von Toledo in Wirtschaftsfragen beriet. »Haben wir nicht bei seinem Amtsantritt vor drei Jahren im Ghetto ein Freudenfest gefeiert, weil wir wussten, dass mit ihm die weltläufige und judenfreundliche Regierung weitergehen würde? Trugen wir nicht an diesem Tag unsere gewöhnlichen Fahnen samt den zehn Geboten unter einem Baldachin herum und sangen Lieder? Nun? Der König von Kastilien war es, der uns im Jahr darauf die Versicherung gab, dass wir für künftige Zeiten nicht aus Toledo und den Ländern der Krone vertrieben werden sollten.«

»Und wir müssen kein Judenzeichen tragen, wie die Brüder in anderen Ländern es seit hundert Jahren tun müssen.«

»Und wir zahlen auch für unsere Waren keine höheren Mautgebühren als die christlichen Kaufleute.«

Ein Jude, den Henri unter dem Namen Isaak Kohen kannte, sagte: »Der König ist unser Schutzpatron, das ist wahr. Unter ihm ist sogar unser Rabbi samt seinem Bruder Rabbi Sinai und mir im Alcazar empfangen worden. Ich schwöre, er gab uns die Hand, und wir durften sogar unsere Kopfbedeckung vor ihm aufbehalten. Derartiges gab es noch nie.«

»Wie kostbar das alles ist!«

Ein anderer, es war Josef de Cerui, der erste und einzige jüdische Goldschneider des Königs, der auf dem Alcazar sein Handwerk ausüben durfte, fügte hinzu: »Wir würden alles verlieren und auf Staub und Abfall zurückgeworfen werden, wenn wir Hand an einen Christenmenschen gelegt hätten. Was würde aus uns werden, wenn der Zorn der anderen sich gegen uns richtet! Haben wir nicht genug Pogrome erlebt? Sind nicht unsere Friedhöfe voll von Grabsteinen Hingerichteter, über die sich im Frühling die Dolden des Holunders beugen?«

»Poesie nützt uns ebenso wenig«, warf ein junger Jude energisch ein, den Henri nicht kannte. »Wir müssen uns bei den Christenmenschen nützlich machen.«

»Jahwe, sein Name sei für uns nicht unaussprechlich, stehe uns bei und helfe uns!«

»Nein!«, erhob sich die donnernde Stimme des Rabbi Theophil von Speyer. »Ihr seid schon wieder auf dem Weg in die Schuld. Wir haben nichts verbrochen. Manuel ist ein Feind unseres Freundes Henri. Und der Feind unseres Freundes ist auch unser Feind. Er ist verschwunden. Er ist unwiederbringlich fort. Und ich werde niemals preisgeben, wie dies geschah. Selbst unter der Folter nicht! Ob ich etwas nachgeholfen habe oder ob sich alles schicksalhaft fügte – wir Kabbalisten wollen nicht mehr daran rühren! Denn auch der Homunculus wird nie wieder auftauchen.«

Henri wusste nicht, was er zu alldem sagen sollte. Er ahnte aber, sein Lehrer hatte aus richtiger Absicht heraus das Falsche getan. Und er ahnte, das konnte noch üble Folgen nach sich ziehen. Toledo war eine glimmende Feuerstelle geworden. Und die kleinste Verfehlung eines Juden konnte sie zu einem Flächenbrand entzünden.

Als er wenig später aufstand, um die Kabbalisten und die Schule zu verlassen, da war ihm schwindlig aus Angst vor dem, was geschehen konnte.

Joshua ben Shimon schlug Henri vor, ihn zu Ferrand de Tours zu begleiten. Henri stimmte zu. Und so gingen sie am nächsten Morgen, wie Henri ahnte, zum letzten Mal auf das Schulgelände.

Henri konnte sich nicht mehr vorstellen, den Weg der Kabbala zu Ende zu gehen. Er spürte, dass die Kräfte, die er durch seine eigenen Beschwörungen mit herbeigerufen hatte, von ihm nicht zu beherrschen waren. Alles entglitt ihm. Aber auch Joshua zweifelte daran, dass die Kabbalisten in der Lage sein würden, ihr geheimes Wissen zur Abwehr des drohenden Unheils einzusetzen.

Er wusste nicht, wie weit ihre Macht wirklich ging.

Ferrand empfing sie mit einem hasserfüllten Gesicht. Er bedachte vor allem Joshua mit düsteren Blicken und weigerte sich, ihm die Hand zu reichen.

Henri beschloss, ihm zu drohen. »Manuel ist verschwunden. Und auch Euch wird es so ergehen, Ferrand, wenn Ihr nicht zur Besinnung kommt und die unsinnigen Anklagen gegen die Judengemeinde von Toledo vergesst!«

Ferrand schien an bitterer Galle zu ersticken. Er schrie sofort los: »Die Juden sind unser Unglück! Wir müssen sie im Heiligen Land genauso vernichten wie zu Hause. So, wie der Zug der Kreuzritter nach Palästina eine Spur der Verwüstung auch durch die jüdischen Siedlungen in der Heimat gezogen hat, so müssen wir jetzt unsere Auseinandersetzungen zu einem Speer gegen die Ungläubigen schmieden! Wir Christen müssen uns wehren!«

»Ihr ruft zu Mord und Totschlag auf, Ferrand de Tours!«, sagte Joshua ruhig, und seine schmale, kleine Gestalt stand felsenfest vor dem blonden Hünen, wie König David einst vor Goliath gestanden hatte. »Die wirkliche Gefahr, das sind Menschen, wie Ihr es seid! Unduldsame, enge Geister!«

Und Henri fügte hinzu: »Was der Mensch hasst, das fürchtet er. Es sind nicht die Juden, die Mordpläne hegen, es sind wir Christen! Ich selbst habe in Palästina gesehen, wie unschuldige Judenfamilien, beinahe ein ganzes Volk, ermordet wurden! Ich habe damals selbst gedacht, sie hätten es verdient. Ich will nicht noch einmal Schuld auf mich laden. Und ich flehe Euch an, Ferrand, tut auch Ihr nichts dergleichen.«

Ferrand hatte sich wieder beruhigt. Aber sein tonloser Hass war noch schlimmer. Er sagte mit erstickter Stimme: »Die Juden sind Brunnenvergifter, sie waren es immer. Deshalb sind sie auch zur ewigen Sklaverei verdammt. Ich könnte diesen Juden hier«, er deutete auf Joshua, »erschlagen, ohne angeklagt zu werden. Papst Innozenz der Dritte hat sie für ihren Mord an Jesus Christus verdammt, und Thomas von Aquin hat sie zu Sklaven unserer Kirche erklärt, die über ihr Vermögen frei verfügen kann. Was ist ein Jude also wert? Nichts! Ebenso wenig wie sein Besitz. Wir werden sie erschlagen, bevor sie uns töten können!«

»Habt Ihr kein Herz, Ferrand?«, fragte Henri mutlos. »Sagt Euch nicht eine innere Stimme, dass es Unrecht ist, was Ihr sprecht? Die Juden sind Menschen wie wir, die Rechte, die Gott allen verlieh, gelten auch für sie.«

»Das bezweifle ich! Da die Juden Ritualmorde an Christen begangen haben und noch immer begehen, haben sie alle Rechte verwirkt!«

»Christen töten Juden«, sagte Joshua, »das war in allen Pogromen so, nicht umgekehrt.«

»Sie halten Schwarze Messen ab, in denen die Hostie geschändet wird! Ihre Mordlust ist eine zwanghafte Wiederholung der Kreuzigung Christi, denn sie müssen immer wieder das Blut des Messias trinken! Juden sind Abschaum!«