»Die königliche Gunst ist wankelmütig«, meinte Joshua. »Und manchmal kommt es mir so vor, als seien wir nicht Schutzbefohlene, sondern Leibeigene der Krone.«
»Es stimmt«, sagte Theophil, »wir leben in völliger Abhängigkeit vom Schutz des Königs. Und die Tatsache, dass zunehmend seine Soldaten das Stadtbild beherrschen, ist nicht immer nur beruhigend. Aber Alfons braucht uns ebenso wie wir ihn.«
»Morgen kann es schon zu spät sein«, sagte Henri beschwörend. »Geht gleich zu den Verantwortlichen dieser Stadtgemeinschaft. Lasst diesen Ferrand de Tours als Volksverhetzer legal ausweisen. Wenn ich lange darüber nachdenke, könnte ich sonst auf den Gedanken kommen, ihn höchstpersönlich mit dem Schwert zu vertreiben!«
»Ladet keine Schuld auf Euch, mein Sohn! Nein, ich werde handeln.«
»Ich empfinde Schmerz darüber«, sagte Joshua, »dass die Kabbala-Sitzungen so unrühmlich enden mussten. Ich habe für dich so viel damit verbunden, Henri! Willst du nicht doch die zehnte und letzte Lektion anhören und die Bücher zu Ende lesen?«
Henri schüttelte nur den Kopf. »Es gibt eine Zeit zum Studieren, und es gibt eine Zeit zum Handeln, Joshua. Jetzt muss gehandelt werden. Vielleicht kommt der Moment, wo du selbst mir die zehnte Lektion erteilen wirst.«
»Ich bin Zahlenmystiker, kein Kabbalist.«
»Dennoch glaube ich, du könntest das. Du kannst alles, wenn du willst!«
»Übertreibe nicht, Henri de Roslin«, gab Theophil zu bedenken. »Joshua ben Shimon ist gewiss ein sehr weiser Mann, aber die Geheimnisse der Kabbala hat er nie bis zum Ende durchschritten. Auch er kennt die zehnte und letzte Lektion nicht.«
»Das ist wahr.«
»Nun, wie auch immer«, erwiderte Henri. »Wenn jetzt die Zeit zum Handeln ist, wie du sagst, dann handeln wir!«
Die junge Jüdin hieß Azaria. Henri hatte noch nie ein so schönes Mädchen gesehen. Und sie erinnerte ihn an Rahel, die Tochter Theophils von Speyer, die er an einem Abend tödlicher Gefahr für eine Judengemeinde kennen gelernt und nie wieder gesehen hatte.
Azaria trug den Schleier als Kopfbedeckung und ein langes Kleid. Henri war entzückt über den Klang des Glöckchens, das sie um den Hals trug. Und er konnte unter der Verhüllung die Anmut ihres Leibes erkennen. Sie bewegte sich wie eine Gazelle, wenn sie ging, setzte sie ihre Füße so sorgsam auf, als wolle sie die noch ungeborenen Kinder nicht stören, die in der Erde zwischen den Blumen schlafen mochten.
Er hatte sie schon beobachtet, wenn sie am Freitagabend das Essen für ihre Familie aus der Juderia holte oder wenn sie Geld für das Öl der Synagogenlampen sammelte. Heute sah er sie vor ihrem Haus Mazzen backen, und ihre weiße Haut schimmerte mit jenem zarten Schein, den nur junge, unberührte Mädchen ausstrahlen.
Henri war innerlich frei genug, sich vorzustellen, wie sich der volle, weiße Busen Azarias bei ihrem Atmen hob und senkte. Er dachte keusch daran, und doch spürte er eine tiefe Sehnsucht, in ihrer Nähe zu sein, ihr zuzusehen, sie sprechen zu hören. In dieser jungen, schon voll erblühten Frau formte sich in seiner Vorstellung das Gegenbild zu all dem Schrecken, den man den Juden antat und noch antun würde. Musste nicht ein einziges Wesen wie Azaria alle Vorurteile widerlegen und die Verfolgungen beenden?
Auch sie grüßte ihn an diesem Morgen, denn sie kannte ihn schon. Sie lächelte scheu und freundlich, schlug die Augen nieder, blickte ihm dann aber entgegen, als er auf sie zukam.
Henri fühlte sich durch ihre Blicke noch sicherer, noch größer, ja selbst noch begehrenswerter. Aber er wusste gleichzeitig, dass er sich um dieses wunderschöne Mädchen nicht bemühen durfte. Sein Keuschheitsgelübde galt für ihn immer noch, obwohl es den Orden nicht mehr gab, vor dem er es abgelegt hatte. Es galt für die ihm eigene, persönliche Treue, obwohl der Papst, der es verlangt hatte, sie verraten hatte. Henri hatte danach beschlossen, seinem eigenen inneren Kodex weiter zu folgen.
»Ein schöner Tag, Señor de Roslin, nicht wahr?«
»Wunderschön! Schön wie die Sonne!«
»Wie meint Ihr?«
»Ihr seid so schön wie der Tag, wie die Sonne, wie das Leben, Azaria! Und doch hängen so dunkle Wolken über unseren Köpfen.«
Sie legte die schmalen Hände auf ihre Brust. »Meint Ihr, uns droht Unheil?«
»Das Fest der Maria Magdalena ist zu Ende. Manche suchen jetzt nach anderer Abwechslung. Schon hört man Verdächtigungen, die ein gewisser Ferrand ausstreut. Ist Euch das bekannt, Azaria?«
»Ich will es nicht wahrhaben, obwohl ich davon hörte, das ist wahr.«
»Nun, solange ich in Toledo bin, will ich auf Euch Acht geben! Darf ich Euch beim Mazzenbacken einen Moment zusehen?«
»Aber was ist daran so besonders? Es muss Euch, einen so gelehrten und weit gereisten Herrn, doch langweilen.«
»Nein, im Gegenteil. Es gibt mir Zuversicht in das Leben. Bevor ich Ferrand aufsuche, um ihn ein letztes Mal zur Rede zu stellen, will ich mich an deinem Anblick stärken, Azaria. Wenn du erlaubst.«
Sie errötete leicht und beugte sich über ihre Bottiche. Henri fand es entzückend, wie ihr eine schwarze Locke über die Augen fiel und Azaria versuchte, sie mit dem Hauch ihres Atems zurückzublasen. Sie konnte ihre Hände, an denen Teig klebte, nicht benutzen. Deshalb trat Henri hinzu und strich ihr mit einer zarten Geste das Haar zurück.
Sie dankte ihm mit einem Augenaufschlag. Er war so viel sagend, dass Henri die Grenze spürte, die er zu übertreten im Begriff war. Deshalb verabschiedete er sich hastig von ihr. In solchen Wesen, musste er denken, während er die Gasse hinunterging, zeigt sich Gott. Und wären ihre Feinde nicht blind, würden sie es sehen und die üble Nachrede einstellen.
Ferrand hatte die Schule verlassen müssen. Aber zu einer Ausweisung hatte sich der Rat der Stadt nicht durchringen können. Er bewohnte jetzt ein Zimmer neben der Sakristei einer zu einer Kirche umgebauten Moschee.
Als Henri die Kirche durch den Seiteneingang betrat, ahnte er die Nähe einer Gefahr. Er bekreuzigte sich vor dem Gnadenbild und lauschte. Vor dem Hauptaltar beteten Menschen, sonst war der Raum leer. Er wusste, wo Ferrand zu finden war, und ging in die Räume des Sakristans.
Ferrand erwartete ihn. Aber nicht so, wie Henri gedacht hatte.
Der Franzose schien abreisen zu wollen, er hielt das Korporalskästchen und eine Reitpeitsche in der Linken, in der anderen Hand einen dunklen, stumpfen Gegenstand. Als er Henri sah, stürzte er auf ihn zu. »Du schon wieder! Was willst du? Ich werde dir…!«
Henri spürte den Hieb mehr, als er ihn sah. Instinktiv trat er zur Seite. Ein stechender Schmerz in seiner linken Schulter zeigte ihm an, dass Ferrand mit einem Gegenstand zugeschlagen haben musste, der kein Schwert gewesen sein konnte. Henri taumelte. Als er sich wieder aufrichtete, nahm er einen fliehenden Schatten an der kleinen Hintertür wahr.
In Henri formte und löste sich die Wut über diesen infamen Menschen zu einem Schrei. Dann folgte er Ferrand de Tours.
Er gelangte in den Garten hinter der Kirche. Palmen umstanden den Innenhof, der von einem Kreuzgang gesäumt wurde. In der Mitte plätscherte ein Brunnen. Hinten im Gebüsch raschelte und bewegte sich etwas, aber Henri konnte nichts Genaues erkennen. Ferrand blieb verschwunden.
Henri zog sein Kurzschwert und folgte dem Geräusch. Er wusste, dort hinten, diagonal zu seiner eigenen Position, war ein Durchgang zur Straße, die von der Rückfront zu verschiedenen Seminargebäuden des Hieronymiten-Klosters verlief. Er rannte hinüber und betrat die Straße. Ich töte dich, Ferrand, dachte Henri. Und er meinte es ernst.
Für einen Moment blendeten ihn die Sonnenstrahlen. Niemand war zu beiden Seiten zu sehen. Er machte kehrt.
Jetzt nahm er eine offen stehende Tür wahr. Dort befand sich die Lonja de Mercaderes, eingekeilt von zwei anderen Gebäuden, beide besaßen mehrere geschlossene Fenster, aber keinen Eingang. Der Flüchtige musste also durch das Tor verschwunden sein.