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Henri ging mit ein paar langen Schritten hinüber, die schwarze Öffnung des Durchgangs zog ihn unwiderstehlich an. Lauerte Ferrand dahinter? Dann würde er sein Schwert zu spüren bekommen. Ihm war, als flüstere ihm jemand zu, näher zu kommen, einzutreten…

Als Henri durch die von einem maurischen Bogen gekrönte Tür trat, öffnete sich dahinter ein schmaler Gang, der mit kleinen, spitzen Steinen gepflastert war. Henri hörte seinen eigenen Schritt hallen. Als er stehen blieb, fiel im Hintergrund eine Tür zu.

Eine Art Laubengang, wie er ihn aus verschiedenen Palacios im Süden Iberiens kannte, lag vor ihm. Der Gang wirkte wie ein Schlauch auf dem Grund eines kühlen Sees, rechts und links schien das Schilf in der Dünung des kühlen Wassers wie im Traum leise zu wogen. Das Bild des Wassers drängte sich in sein Bewusstsein. Er musste einfach diesem Gang folgen.

Es wurde ihm bewusst, dass er mitten in Toledo war, zur belebten Mittagszeit. Doch dieser Ort hier hatte etwas Magisches, Fremdes. Und wenn Ferrand eine andere Waffe als die Reitpeitsche besaß, lauerte sogar der Tod auf ihn.

Es war totenstill, kein Vogel sang.

Henri befand sich jetzt auf der Südseite der Stadt. Hinter den Mauern musste rechter Hand schon der Tajo fließen.

Am Ende des Ganges blieb er wieder stehen und warf einen Blick zurück. Niemand war zu sehen. Seitlich öffnete sich ein kleiner Garten mit einer umlaufenden Empore auf halber Höhe der quadratischen Häuserwand. Wo war Ferrand? Henri ließ die wachsamen Blicke schweifen. Die Empore stand auf dicken, gedrungenen Marmorsäulen, nach Art der Kirchenpfeiler mit Tierköpfen und Dämonen verziert. Dahinter konnte sich Ferrand verbergen. Aber als Henri vorsichtig näher ging, bemerkte er, dass der Lichteinfall den Schatten eines Versteckten verraten hätte.

»Ferrand! Wo bist du? Zeig dich, du Feigling!«

Henris Stimme hallte nach und verlor sich dann. Stille. Er ging weiter. Jenseits des Durchgangs betrat er den dunklen Raum der Casa des Chapiz. Er stellte sich mit dem Rücken zur Wand und versuchte, etwas zu erkennen. Kühl fühlte er den roh verputzten Stein an seinem Rücken.

Henris Blicke konnten die Dunkelheit nicht durchdringen. Er tastete sich weiter, Schritt für Schritt. Instinktiv spürte er die Gegenwart eines anderen.

Henri versuchte, sich den Grundriss der Casa in Erinnerung zu rufen, die er von Besuchen kannte. Er stand hier im Erdgeschoss einer kleinen Halle, die so hoch wie das ganze Haus aufragte, linker Hand führte eine Treppe in das umlaufende obere Stockwerk, in der Mitte des gefliesten Raumes musste sich ein kleines, ovales Bassin befinden, das von vier, eine Gazelle reißenden Löwen umrahmt wurde. Der ganze Raum konnte nicht mehr als dreißig Meter im Quadrat messen.

Wo wartete Ferrand auf ihn?

Plötzlich fiel genau gegenüber im Hintergrund etwas um und rollte langsam über den Boden. Es kam näher. Das dabei entstehende Geräusch war von bedrohlicher Intensität, als sei es ausschließlich für Henri de Roslin in die Welt geschickt worden. Es wurde immer lauter. Dann hörte Henri davonhastende Schritte. Henri spurtete hinterher. Er stieß gegen etwas, das ihm wie ein schweres Fass vorkam. Eine Tür schlug zu. Dann noch eine, weiter entfernt. Dann hörte Henri Stimmen.

Als die Dunkelheit wich, sah er sich unter den Umrissen eines Torbogens stehen. Ein paar Fledermäuse schreckten hoch und flatterten dicht an seinem Gesicht vorbei in die Dunkelheit zurück. Die Stimmen näherten sich von der anderen Seite. Von dort, wo ein reich verziertes, figurenloses Mosaik zu sehen war, das eine ganze Wand bedeckte. Jetzt sah Henri, dass die Stimmen zu Hieronymiten gehörten, die einen Mann in ihrer Mitte mit sich schleiften.

»Das ist er! Das ist er!«, schrien sie durcheinander. »Er wollte fliehen! Seht nur, er hat das Kreuz gestohlen. Bruder Enrique ist verletzt.«

Henri begriff enttäuscht, dass es nicht Ferrand war, den sie abführten. Es musste ein ganz gewöhnlicher Kirchendieb sein. Der Gefangene sträubte sich mit Händen und Füßen. Sie drückten ihn an eine frisch gekalkte Wand, schlugen ihm mit den Füßen die Beine weg und zwangen ihn, sich auf den Lehmboden zu setzen.

»Habt Ihr einen großen, blonden Mann gesehen? Er trug ein Kettenhemd und ein rotes Stirnband, in den Händen muss er eine Reitpeitsche und etwas Reiches, Verziertes gehalten haben, vermutlich einen Korporalskasten!«

»Unten am Stall ist jemand auf einem Schimmel davongeritten. Blond, sagtet Ihr, nicht wahr? War es nicht dieser Franzose aus Tours?«

Henri unterdrückte einen Fluch. Er rannte auf die Straße, hinunter zum kommunalen Stall, wo auch sein Pferd stand. Dort angekommen erfuhr er vom Stallburschen, dass Ferrand mit Reisegepäck davongeritten war. Mit Gepäck!, dachte Henri erleichtert. Dann hat er sich also aus dem Staub gemacht! Und Toledo hat von ihm nichts mehr zu befürchten!

Und er beeilte sich, zu Joshua und Theophil zu gehen, um ihnen das zu sagen.

5 

Anfang August 1315, im jüdischen Monat Aw

Ferrand de Tours schlug fortwährend mit der Reitpeitsche gegen seine Stulpenstiefel. Es klatschte aufreizend. Er spürte, dass er endlich am Ziel war.

Aber er war ungehalten. Alles ging ihm zu langsam voran.

»Ich sage Euch doch, ich kann ihn Euch ausliefern! Ich weiß, wo er sich aufhält. Sucht Ihr ihn denn nicht mehr? Er ist ein gefährliches und verkommenes Subjekt! Erst hat er den Heiligen Vater ermordet, dann den König. Jetzt ist er zum Judentum übergetreten und hat sich beschneiden lassen. Er bereitet zusammen mit dem anderen Gesindel die Ausrottung der Christen in Toledo vor! Wenn ich ihn einen Ketzer nenne, so ist das noch viel zu wenig! Er ist…!«

»Papst Clemens ist nicht ermordet worden, er starb an seinen inneren Blutungen. Und ob dieser Templer am Tod des Königs wirklich Schuld trägt oder ob es nicht vielmehr die Folgen eines Jagdunfalls waren, an denen Philipp der Schöne verschied, darüber streiten wir uns noch. Die Öffentlichkeit jedenfalls darf von solchen Vermutungen nichts wissen, Frankreich ist auch so schon unruhig genug. Mein Gott, wenn sie wüssten, dass man sich gegen Kirche und König erheben kann!«

»Auf dem Weg durch den Süden unseres Landes dachte ich allerdings, sie wüssten es alle«, erinnerte sich Ferrand mit Schaudern. »Das flache Land scheint in Aufruhr zu sein. Die Bauern lassen die Felder verrotten.«

Der Richter schaute ihn irritiert an. »Nun, Tatsache ist allerdings, dass Henri de Roslin, der Schatzmeister dieses verfluchten Ordens, aus dem Gefängnis von Fontainebleau geflohen ist und dabei einen Wächter ermordete. Wegen dieses Mordes suchen wir ihn im ganzen Land. Mal hört man, er sei in der Bretagne, mal will ihn jemand in Gironde gesehen haben. Er soll in Toledo sein, sagt Ihr?«

Ferrand blickte den Richter ungnädig an. »Dortselbst! Er hetzt die Leute gegen uns auf. Schon fangen die Juden an, sich zu sammeln. Und die Brunnenvergifter mischen ihre Pülverchen und tun sich mit den Aussätzigen zusammen – ich habe Beweise dafür. Hier, lest dieses Pergament!«

Ferrand wartete, bis der Richter zu Ende gelesen hatte. Der wendete das Pergament nach allen Seiten. »Ist das echt?«

»Deshalb bin ich hier. Es stellt die höchste Gefahr dar!«

»Wie kommt Ihr an dieses Pergament?«

»Nun, das ist eine lange Geschichte. Zu lang…«

»Warum habt Ihr es nicht den königlichen Beamten in Toledo übergeben?«

»Ich habe es versucht. Man wollte nicht auf mich hören. Und dann schien es mir besser, abzureisen… Er wird seiner gerechten Strafe nicht entkommen. Denn in Frankreich wird Henri gesucht, wie Ihr selbst sagt. Wir müssen ihn also rechtmäßig verhaften, anschließend lebend hierher bringen und vor seinen Richter stellen.«