»Dann heirate! Du bist so anziehend! Sie werden sich um dich reißen!«
»Ich – will keinen jüdischen Jungen. Und die christlichen darf ich nicht kriegen. Was also soll ich tun?«
»Warum willst du keinen Juden?«, fragte Henri verwundert.
»Weil sie wie Maror sind, das Bitterkraut auf der Sedertafel! Immer denken sie nur an das eine, an die richtige Auslegung der Schriften und das Beten! Und wenn sie die Hawdala am Ende von Jom Kippur bekommen, dann ist es ihr größter Augenblick. Ich hingegen will einfach lieben! Von morgens bis abends! Ist der Liebende nicht immer auf dem richtigen Weg und tut das Richtige?«
»Tue deinen Glaubensbrüdern kein Unrecht, Azaria! Obwohl – ich kann dich verstehen. Aber unter den Christen gibt es ebenfalls viele, denen das kleine Glück der Liebe nicht viel bedeutet.«
»Bist du so einer?«
»Ich befürchte es. Ich lebe mit Gelübden, Eiden und Verboten. Ich bin kein freier Mann. Der einfachste Stallknecht ist freier als ich, denn er schert sich nicht um Gebote.«
»Ich wünsche mir manchmal einen tatkräftigen Christen, aber ich träume von einem jüdischen Hochzeitsring, auf dem in Hebräisch Masal Tov, viel Glück, eingraviert ist. Und ich ersehne einen Bräutigam, der mir bei der Trauzeremonie unter dem Trauhimmel diesen Ring mit den geflüsterten Worten ansteckt: Durch diesen Ring seist du mir angetraut nach dem Gesetz Moses und Israels. Wie wäre das schön!«
»Schade, dass ich dieser Bräutigam nicht sein kann!«
Sie sah ihn schelmisch an. »Warum eigentlich nicht?«
Henri seufzte tief. »Ich bin einer der armen Brüder Christi, ein Tempelritter. Wir haben Keuschheit, Armut und Gehorsam geschworen.«
Sie blickte entsetzt. »Was für eine Vergeudung!« Nach diesem impulsiven Ausruf schlug sie die Hand vor den Mund. »Ich meine – wie schade!«
»Ich will gar nicht darüber nachdenken, Azaria. Lass uns Freunde bleiben. Lass mich auf dich aufpassen, damit dir nichts geschieht.«
Sie hielten an, und Azaria stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die rechte Wange. Wieder spürte er die lebendige Wärme ihres jungen, bebenden Körpers. Und er dachte: Gott im Himmel, wie süß ist deine Schöpfung!
Als sie später in die Stadt zurückgingen, schien sich etwas verändert zu haben. Überall standen Menschen in kleinen Gruppen herum. Und dann sprang ein Mann auf sie zu, den Henri kannte. Es war der von einer Hasenscharte verunstaltete Fischer Adelarte, der unten dem Fluss in einer Schilfhütte hauste.
»Señor«, sagte Adelarte mit einer hastigen, die Silben verschluckenden Stimme, »ein Adelantado sucht nach Ihnen.«
»Nun und? Was will der Beamte des Königs?«
»Meine Kumpanen erzählten es mir, und ich sage es Ihnen. Mehr weiß ich nicht.«
Der Fischer verschwand schnell wieder. Er tauchte unter im Gestrüpp, das weiter hinten in die Uferbewachsung des Rio Tajo überging.
»Adelantados bedeuten immer Ärger«, sagte die junge Jüdin langsam. »Ich habe noch nie erlebt, dass sie oder ihresgleichen vom Alcazar heruntersteigen, im Stadtbild auftauchen und etwas Gutes bringen. Aber wer bringt uns Juden schon Gutes?«
»Dein Glaube bringt dir Gutes, Azaria – meinst du nicht?«
»Da!« Das Mädchen spießte mit ihrem Zeigefinger einen entfernt stehenden Mann auf, der von Gefolge umgeben war. Im Hintergrund standen Soldaten. »Das muss der Adelantado sein.«
Henri wollte sich dem Würdenträger der Krone sofort zu erkennen geben. Es gab keinen Grund, sich vor ihm zu verstecken. Vielleicht brachte er sogar erfreuliche Nachrichten. Aber Azaria hielt ihn zurück. »Wartet, Henri. Erst einmal sehen, was die hohen Herren vorhaben.«
Der königliche Besuch war gewandet in die Tracht der kastilischen Würdenträger – schwarzer Samtanzug, rote Schärpe, Dolch, Stulpenstiefel, Federbusch. Auf seiner Brust prangte an einer Goldkette das Wappen Kastiliens mit den drei Burgtürmen, er war also offenbar Mitglied des königlichen Geheimrates. Er beratschlagte sich mit seinem Gefolge aus weltlichen und geistlichen Herren. Etwa zehn Hidalgos, Männer von meist niederem und armem, aber einflussreichem Adel aus der gesamten Region, standen ein paar Schritte abseits.
Henri sah hinüber. Die Gruppe der aristokratischen Würdenträger beriet sich. Was konnten sie von ihm wollen? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr riet ihm eine innere Stimme zur Vorsicht. Azaria hatte Recht. Er beschloss also, abzuwarten.
Es schien Henri, als senke sich allmählich eine unnatürliche Stille über das Bild. Und als beobachteten die Einwohner Toledos hinter den Fenstern ihrer Häuser mit angehaltenem Atem, was draußen geschah. Eine befremdliche Stimmung lag über der Stadt am Tajo. Und dann geschah etwas Seltsames.
Eine wunderschöne Frauenstimme ertönte plötzlich aus einem Haus in einer kleinen Gasse. Die Stimme war so rein, dass sich aller Augen in die Richtung wandten, aus der sie kam. Sie erklang aus einem geöffneten Fenster im ersten Stock, gleich oberhalb eines schön geschwungenen Torbogens; es war, als fegte diese engelsgleiche Stimme die böse Stimmung hinweg. Sie schlang sich wie eine Girlande um das Haus, flog zum reich verzierten Flachdach empor, webte einen Sommerhauch um die Arkaden im Erdgeschoss, verband sich mit den Blumen auf dem Balkon. Und gleichzeitig wies ein Hidalgo auf Henri. Und der Adelantado kam auf ihn zu und öffnete den Mund, um Henri anzurufen. Diesem kam es so vor, als käme aus seinen Lippen jene engelsgleiche Stimme, und das gab der Situation etwas Heiteres.
Aber als die Stimme der Sängerin schlagartig abbrach, da hörte Henri den königlichen Beamten mit harter Stimme rufen: »Henri de Roslin? Ihr kommt mit mir!«
Alle Geräusche auf der Straße verstummten. Ganz Toledo schien den Atem anzuhalten.
»Ihr meint mich, Señor?«
»Si, si! Zur Wache!«
»In wessen Auftrag?«
»Das braucht Ihr nicht zu wissen.«
»Was wirft man mir vor?«
»Das erfahrt Ihr schon noch!«, erwiderte der Beamte im dunklen Rock. Er hatte, aus der Nähe besehen, ein bleiches Gesicht und rot geränderte Augen hinter einer Magisterbrille, eine Folge von zu langem Studieren von Akten bei Kerzenschein. Seine fleischigen Lippen waren vorgewölbt und entblößten eine Reihe tadelloser Zähne. Sein Blick war kalt, das machte Henri noch klarer, wie gefährlich die Situation war.
Er handelte schnell. Leise flüsterte er Azaria zu: »Lauft in die Juderia. Versteckt Euch, tut nichts, und lasst Euch möglichst lange nicht blicken. Ich nehme wieder Kontakt zu Euch auf, wenn die Gefahr vorbei ist. Jetzt lauft!«
Gleichzeitig rief Henri dem Adelantado und seinen Leuten zu: »Ihr seid nicht vertrauenswürdig. Ich ziehe es vor, meinen eigenen Weg zu gehen!« Dann rannte er zur anderen Seite davon.
Henri war sich im Klaren darüber, dass seine Möglichkeiten gering waren. Sie kannten sich in Toledo besser aus als er. Sie konnten es abriegeln. Er wusste zwar nicht, in wessen Auftrag sie ihn verhaften wollten – konnte Ferrand de Tours dahinter stecken? –, aber er musste auf jeden Fall Joshua und Theophil warnen.
Und er musste Zeit gewinnen. Während er selbst untertauchte, musste Joshua einen Boten nach Cordoba schicken, um Uthman ibn Umar zu alarmieren. Wieder einmal war es notwendig, dass der beherzte sarazenische Kämpfer an ihre Seite trat. Nur so, in ihrem unbezwingbaren Triumvirat, würde es ihnen möglich sein, sich zu behaupten.
Oder soll ich mich ihnen stellen?, dachte er. Kämpfen und kämpfend untergehen?
Nein, es ist sinnlos. Es wäre einfach nur ein ehrenloser, sinnloser Tod. Ich werde dann gegen sie kämpfen, wenn ich eine gute Chance besitze. Dann würde ich auch den Tod akzeptieren.
Henri sprang über Mauern, rannte durch Hinterhöfe, überquerte Gartenstücke. Hinter sich hörte er die Meute der Verfolger. Er konnte sie nicht abschütteln. Am Hospital de Santa Cruz hielt er einen Moment inne und orientierte sich. Über die Brücken konnte er nicht, sicher wurden sie bewacht. Er musste nach Norden zur Hauptstraße. Wieder tauchte er im Gewirr der engen, steil auf und ab führenden Straßen und Häuser unter, die so verschachtelt waren, dass manche Zimmerdecke dem Treppenhaus des Nebengebäudes weichen und tiefer liegen musste. Er hatte die Häuser der Armen von innen gesehen.