Aber jetzt verschwendete er keinen Gedanken daran. Er rannte. Sprang. Duckte sich durch. Und noch während mehrere Hunde wütend oder spielerisch neben ihm herliefen und auch kläffend an ihm hochsprangen, erreichte Henri de Roslin die Ausfallstraße im Norden.
Er atmete auf.
Als er sich umwandte, sah er keine Verfolger mehr. Henri wischte sich den Schweiß von der Stirn und mischte sich unter den unabsehbaren Strom von Reitern, Lasttieren und Karren, die in die Mancha fuhren oder aus ihr kamen.
Am Abend war er in Sicherheit. Jedenfalls glaubte er das.
Joshua ben Shimon wartete drei Tage auf seinen Gefährten. Am ersten Tag war er unruhig geworden, am zweiten wusste er, dass etwas passiert sein musste, am dritten Tag geriet er in helle Panik. Er beriet sich mit Theophil. Der schlug vor, noch einen weiteren Tag abzuwarten.
Und das taten sie, wenn auch mit Bangen.
Henri de Roslin kam nicht.
In der Nacht konnte Joshua nicht schlafen. Was war geschehen? Was konnte er tun? Er hatte nicht den leisesten Anhaltspunkt, wo Henri war. Er beschloss, gleich morgen früh die Juderia zu verlassen und sich in der Stadt umzuhören. Vielleicht hatte jemand etwas gesehen oder gehört.
Auf dem Hauptplatz der Stadt erfuhr er dann, was geschehen war. Jemand erzählte ihm von der Flucht Henris. Joshua war erleichtert und erschreckt zugleich.
Er überlegte, beriet sich erneut mit Theophil und kehrte voller Unruhe in die Christenstadt zurück. Einen ganzen Tag lang versuchte er, etwas über den Verbleib Henris zu erfahren. Irgendetwas geschah im Dunkeln. Steckte Ferrand dahinter? Der Franzose war vor zwei Wochen verschwunden, aber vielleicht zog er im Hintergrund die Fäden. Joshua konnte sich keinen Reim darauf machen.
Waren er und Theophil inzwischen selbst in Gefahr?
Und dann traute er seinen Augen nicht. Nach Sonnenuntergang stand plötzlich eine junge Frau in seiner Unterkunft. Zuerst erblickte Joshua nur einen Umriss und glaubte, zu phantasieren. Dann machte es »Psst!«, und als er neben die hölzerne Jalousie des Fensters trat, winkte sie ihn heran und sagte: »Erschreckt nicht! Ich heiße Azaria! Ich habe gesehen, was geschehen ist!«
Joshua schob die Jalousien vor die Fensterhöhlung und zündete Kerzen an. Er bat die junge Jüdin, Platz zu nehmen. Und dann erzählte sie alles.
Joshua spürte, wie Eiseskälte in ihm hochkroch. Das Ganze ließ nur einen Schluss zu – Ferrand steckte dahinter. Er musste aus seinem Versteck heraus etwas gegen Henri angezettelt haben. Wie leichtfertig war es von ihnen allen gewesen, zu glauben, Ferrand habe aufgegeben!
Ratlos blickte Joshua die schöne Jüdin an. Was sollte er tun? Dann kam ihm zum Bewusstsein, dass auch sie in Gefahr sein konnte.
»Wollt Ihr hier bleiben? Oder ich könnte Euch auch in der Kabbala-Schule unterbringen. Wenn man Euch zusammen mit Henri gesehen hat, seid auch Ihr gefährdet.«
»Ach, ich weiß gar nichts mehr!«
»Heute Nacht schlaft Ihr hier«, sagte Joshua kurz entschlossen. »Das Haus ist sicher, gegen mich liegt nichts vor. Morgen rede ich mit dem Oberrabbiner, dann sehen wir weiter.«
»Ich bin so verwirrt, und müde, und traurig…«
»Legt Euch schlafen! Euch passiert nichts! Wenn ich nur wüsste, was mit Henri geschehen ist.«
Joshua bereitete der Jüdin ein Nachtlager. Dann ging er trotz der späten Stunde in die Kabbala-Schule hinüber. Dort hatte auch Henris Knappe Sean eine Unterkunft gefunden. Joshua betrat das Zimmer, in dem Sean über einem Buch gebeugt saß.
»Ah, Joshua! Willkommen!«
Joshua blickte den Jungen ernst an. »Die Stunde deiner ersten großen Bewährung ist gekommen, Sean.«
Der Knappe erbleichte. Gleichzeitig blitzten seine Augen vor Tatendrang. »Was soll ich tun, Joshua?«
»Du musst nach Cordoba reiten. In fünf Tagen kannst du es schaffen. Halte dich auf den Wegen der Handelsrouten, dann kannst du beliebig oft das Pferd wechseln. Ich gebe dir genug Maravedis mit. In Cordoba alarmierst du Uthman. Du bleibst dort in seiner Schule und tust etwas Vernünftiges. Uthman aber muss sofort herkommen. Ich rechne fest mit ihm in spätestens zehn Tagen. Verstanden?«
Der Junge wollte etwas heraussprudeln, verschluckte sich aber. Er hustete, dann sagte er: »Warum befielt mir Meister Henri das nicht selbst? Er ist mein Herr.«
»Henri ist seit Tagen verschwunden. Es muss etwas Schreckliches geschehen sein.«
»Ich dachte, er sucht nur nach Ferrand.«
»Je schneller du reitest, umso größer sind die Möglichkeiten, dass wir ihn aus dem Schlamassel herausholen, in dem er wahrscheinlich jetzt steckt.«
»Wird er mich dann endlich befördern?«
»Das ist gut möglich. Aber die Wege des Herrn sind unergründlich. Und nun bereite dein Pferd. Ich schreibe den Brief für Uthman und besorge das Geld. Wir treffen uns hier noch vor Sonnenaufgang.«
Er hastete zurück zu seiner Unterkunft. Über Toledo lag jetzt die Nacht. Joshua empfand nicht die süßen Geheimnisse, die eine solche Nacht unter dem Himmel einer schönen Stadt im Süden mit sich bringen konnte. Er spürte nur die Gefahren, die in der Dunkelheit lauerten.
Azaria schlief nicht. Als Joshua sie erblickte, wurde er für einen Herzschlag ruhiger. Wie schön es ist, wenn eine junge Frau zu Hause wartet, dachte er. Und ein kindischer Gedanke hüpfte in seiner Seele. Wie wäre es, wenn ich der Jude bin, der ihr als Erster einen Ehering an den Finger steckt? Dann muss sie mich heiraten. Es würde ein schöner Ring sein, der schönste auf der Erdenscheibe. Aus Gold natürlich, ein breiter Reif mit Kordelbändern, an beiden Seiten durch ein Flechtband eingefasst, mit einem kleinen, goldgeschmiedeten Aufbau, unser zukünftiges gemeinsames Haus darstellend. Er würde ihr den Ring überstreifen, um das Sabbatlicht in ihnen beiden anzuzünden. Und dann würde er sagen…
»Was ist, Joshua? Du bist so bleich! Oh Gott, was ist denn geschehen?«
Joshua kam zu sich, er verscheuchte die süßen Gedanken. »Wir werden Henri suchen. Vor Sonnenaufgang reitet Sean nach Cordoba und alarmiert Uthman, den treuen Freund. Keine Sorge, Azaria! Wir finden Henri unversehrt. Er weiß sich zu helfen, er ist ein erfahrener Kämpfer und Stratege.«
»Und wenn alles längst zu spät ist?«
»Wenn er in den Händen der Schergen ist? Ja dann… dann…«
»Dann fällt die Welt in Sterben…«
»Ja, das tut sie. Dann leuchtet uns kein Licht mehr…«
In der gleichen Nacht überschritt Ferrand de Tours, von Frankreich kommend, bei Port Bou die Grenze nach Iberien.
In seiner Begleitung befand sich der wildeste Haufen, den er auftreiben konnte. Söldner, Gesetzesbrecher, Mörder. Sogar ein verurteilter jüdischer Häretiker war darunter, der bei der Überführung in das Inquisitionsgefängnis von Nimes geflohen war. Ferrand war es gleich, wer in seiner Begleitung war und was sie getan hatten. Er hatte sie bezahlt und war nur von dem einen Gedanken beseelt, nach Toledo zu reiten, um Henri de Roslin, der sich inzwischen hoffentlich im Gewahrsam seiner Feinde befand, gegenüberzutreten.
Die Schar benutzte die flachen Uferstreifen des Meeres, um schneller voranzukommen. Sie wechselten die Pferde so oft sie konnten, und wenn sie sich mit den Besitzern nicht schnell genug über einen Preis einigen konnten, dann stahlen sie sie einfach. Auf diesem Weg hinterließen sie in ihrem Grimm auch drei tote Landleute, die es gewagt hatten, ihren spärlichen Besitz zu verteidigen. Aber was zählten in diesen Zeiten schon drei Bauern! Für Ferrand war es nur Geschmeiß.