Und durch welchen Ort sie auch immer kamen, sie sahen die Zeichen der Auflösung, der Not und der Seuche, die von Norden aus einsickerte. So fühlten sie sich nur als die Nachhut des Schreckens.
Als sie am nächsten Morgen südlich der Pyrenäen in einem kleinen Ort eine Synagoge sahen, vor der Pferde standen, hielten sie. Sie nahmen die Reittiere. Und als Männer hinzusprangen, erschlugen die Schergen Ferrands sie. Dann trieben sie Frauen und Kinder in die Synagoge hinein, zerschlugen drinnen den Altar, schlitzten die kostbaren Decken mit der Quadratschrift und die Gebetstücher vor dem Thora-Schrein auf, warfen die siebenarmigen Leuchter durch die zerspringenden bunten Fensterrosetten, rissen die geschmiedeten Eisenleuchter mit den weißen Kerzen von der Decke und legten Feuer. Sie verschlossen das Gotteshaus und hörten das Flehen der Mütter und die Todesschreie, aber darüber lachten sie nur.
Im wilden Galopp preschten sie davon. Zwanzig dunkle Existenzen in einer Zeit der Rechtlosigkeit. In einer Zeit, als der Groll Gottes noch größer zu sein schien als der Zorn der Menschen.
Wer wollte ihnen etwas anhaben!
Als sie am Abend nach Westen abbogen, um das flache Land der Mancha zu nutzen, gab Ferrand die Parole aus: »Wer als Erster die goldenen Türme von Toledo sieht, dem schenke ich eine jüdische Jungfrau!«
Und die Männer schrien durcheinander. Ihre Gier kannte keine Grenzen. Und sie fühlten nur eines – das kalte Gefühl ihrer eigenen, unverwüstlichen Grausamkeit.
ZWEITER TEIL
6
Ende August 1315, im jüdischen Monat Elul
Henri de Roslin wusste, was ihm bevorstand. Die Mienen seiner Ankläger waren eindeutig.
Er hatte keine Angst vor ihnen, er fühlte nur Traurigkeit darüber, dass er jetzt seine Freunde Joshua ben Shimon und den Knappen Sean of Ardchatten, seinen Lehrer Theophil von Speyer und die schöne Azaria nicht wieder sehen würde. Er dachte: Verzeiht mir, wenn ich euch Sorgen mache. Und er war wütend über sich selbst, weil er einen winzigen Moment lang unvorsichtig gewesen war. Die Königlichen hatten diesen Moment genutzt, als er schon glaubte, die Gefahr der Verfolgung sei vorüber. Sie hatten ihn in der Nacht an der Brücke nach Toledo überwältigt.
Henri wusste noch nicht, was sie ihm vorwarfen, aber er ahnte es. Es musste Ferrand de Tours dahinter stecken. Er hatte ihn noch nicht zu Gesicht bekommen. Aber auf dem Haftbefehl, den man ihm zeigte, stand auch Ferrands Name. Der Judenfeind musste nach seiner Flucht nach Frankreich die königlichen Behörden auf seine Spur gehetzt haben.
Henri de Roslin wusste nicht, an welchem Ort er sich selbst die letzte Zeit befunden hatte, man hatte ihm die Augen verbunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Es waren jedenfalls nicht die hallenden Marmorgänge des königlichen Alcazars, durch die man ihn an diesem Morgen führte, das spürte er am Klang, den die Schritte auf dem Bodenbelag verursachten. Es musste ein Amtsgebäude sein, klein und verschwiegen. Und als er seinem Ankläger gegenübertrat, begriff er, dass er sich in einem Haus der Suprema befand, der iberischen Inquisition.
Er sah es, nachdem man ihm die Augenbinde abgenommen hatte, an der Zeremonientracht seines Gegenübers. Er trug ein Käppchen mit Goldfäden auf dem beinahe kahlen Kopf, eine weinrote Cappa magna mit hochstehendem Kragen, darunter ein silbern besticktes Rochett, das in langen Falten herab bis zur Erde fiel. Das Brustkreuz glänzte im Licht der frühen Sonne, das durch die gläsernen Rosetten des hohen Raumes einfiel. Und die Finger der linken Hand, die wie eine Tarantel die Armlehnen seines Sessels umkrampften, schmückten schwer eingefasste Ringdiamanten.
Henri überlegte, ob es seine Pflicht als freier christlicher Ordensritter gewesen wäre, diese Ringe zu küssen. Er hatte einen Kardinal der Kurie vor sich. Aber er verspürte kein Bedürfnis danach, und man zwang ihn nicht dazu. Also blieb er hoch aufgerichtet und stolz stehen und blickte das Pergament an, das ihm ein Sekretär vor die Augen hielt, der neben dem Kardinal stand.
»Bist du Henri de Roslin, geboren im Jahr unseres Herrn 1272 in Roslin in der Grafschaft Midlothian im Land Schottland?«
»Ja.«
»Man wirft dir vor, ein Ketzer zu sein.«
»Wer wirft mir solches vor?«
»Du stellst keine Fragen, wir stellen sie. Du antwortest nur.«
»Ich kann auf eine solche Frage nur antworten, wenn ich weiß, welcher Vergehen man mich beschuldigt.«
»Du sollst den richtigen Glauben verraten haben und zum Judentum übergetreten sein. Du hast dich nicht nur im Geheimen beschneiden lassen – das ließe sich schnell überprüfen –, es ist deine innere Haltung, die uns Sorge bereitet, denn du bist vom richtigen Glauben abgefallen. Du wiegelst die Juden Toledos gegen die Christenheit auf. Und du hast einen Mann ermordet.«
»Ich habe viele Männer ermordet. Als im Jahr 1291 unser christliches Akkon in die Hände der Sarazenen fiel, habe ich getötet. Ich war neunzehn und Knappe, aber ich tötete. Als ich im Jahr unseres Herrn 1312 in Aleppo war, befreite ich gefangene Christen aus einem sarazenischen Kerker. Ich tötete wahllos, um mich und meine Gefährten zu retten.«
»Wir meinen nicht, ob du Ungläubige getötet hast, die keine Seele besitzen, sondern ob du eine Christenseele ausgelöscht hast.«
Der Kardinal beugte sich interessiert vor. »Gelang in Aleppo die Befreiung unserer Leute?«
»Ja, Eminenz. Viele starben dabei, aber noch mehr wurden befreit.«
»Antworte endlich! Hast du einen Mann namens Jacques Cour getötet?«
»Ich kenne einen Mann dieses Namens nicht.«
»Er war Aufseher im Schloss des französischen Königs in Fontainebleau.«
»Ihr meint, im Folterkeller dieses Schlosses, wohin man mich verschleppt hatte? Dort tötete ich einen Wachmann, bevor man mich töten konnte. Kennt Ihr das Instrument der Eisernen Jungfrau, Herr? Es war Notwehr. Ich wurde gefoltert. Wenn dieser Wachmann Jacques Cour hieß, dann habe ich ihn getötet. Ja.«
»Man verlangt nun deine Auslieferung nach Frankreich. Wir sollen dich den dortigen Gerichten überstellen, damit der Mord verhandelt werden kann. Ein gewisser Ferrand de Tours wird dich abholen und dich begleiten.«
»Ah, de Tours ist ein Lügner und Verleumder. Er bereitete in Toledo mit gefälschten Beweisen den Mord an den Juden vor. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten. Seine Absichten hätten die Stadt in das Chaos geführt.«
»Das zu beurteilen ist nicht deine Aufgabe! Die Behörden Toledos sind in der Lage, solche Dinge zu regeln. Du bekennst dich also des Mordes für schuldig?«
»Es war Notwehr.«
»Und – bist du ein Ketzer?«
»Ich bin nicht zum Judentum übergetreten. Ich bin Christ. Und ich werde es immer bleiben.«
»Man sagt, du gehörtest dem Orden der Tempelritter an.«
»Ich war für den Geldhandel und den Schutz der Pilgerstraßen zuständig.«
»Wenn wir dich nach Frankreich ausliefern, wird dir dort der Prozess auch wegen dieser Zugehörigkeit gemacht.«
»Ich weiß.«
»Man wird dich der weltlichen Gewalt ausliefern. Und du wirst auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«
»Wenn ich die Foltern beim Verhör überlebe.«
»Das ist die Voraussetzung, ja. Aber ein Templer hält einiges aus, nicht wahr, eure Erziehung hat euch doch darauf vorbereitet?«
Henri zog es vor, zu schweigen. Der Kardinal warf ein: