»Wir könnten dich auch offiziell der Ketzerei anklagen, dann müssten wir vom Heiligen Offizium uns deines Falles annehmen. Wir behielten dich in einem iberischen Gefängnis, bis du reumütig und geständig bist. Das würde deinen Tod in Frankreich vermeiden.«
»Eminenz«, sagte Henri, »ersparen Sie Ihrer Güte, sich so nutzlos zu vergeuden. Denn das wäre keine wirklich erstrebenswerte Alternative für einen Mann wie mich. Ich muss frei sein – oder sterben.«
Der Sekretär des Kardinals war rot angelaufen. »Hört, hört! Nun, was deine Großmäuligkeit angeht, so bist du auf jeden Fall schon vorverurteilt, das kann ich dir versprechen. Aber welche Gründe kannst du aufführen, die uns bewegen könnten, dich den französischen Schergen zu verweigern? Was hast du für Iberien bewirkt, das ins Feld zu führen wäre?«
»Ich bin ein guter Christ in einem christlichen Land. Und meine Verfolger säen Zwietracht unter den Glaubensgemeinschaften und Kulturen. Das ist alles, was ich anführen kann.«
»Sehr wenig!«
Der Kardinal rutschte auf seinem mit weinroten Polstern ausgeschlagenen Sessel aus libanesischem Zedernholz hin und her. Offensichtlich fühlte er sich bei diesem Verhör unwohl. Henri vertraute aber nicht auf ihn. Denn eine Gerechtigkeit schien ihm in diesen Tagen nirgendwo sichtbar zu sein. Aber dann lächelte der Kardinal ein warmherziges Lächeln, das sein ganzes Gesicht erfasste.
»Mein Sohn, wenn du kein Ketzer bist, dann kann dir nichts geschehen. Wir haben dich nicht zu bestrafen, wir wollen dich nur auf den richtigen Weg des Seelenheils zurückführen.«
Henri kannte solche Formeln, sie führten nicht zum Seelenheil, sondern geradewegs zu Folter und Tod. Er dachte in diesem Moment an die junge Jüdin Azaria. Wie weit würde der Weg zu ihr zurück sein! Wenn er überhaupt jemals wieder Gelegenheit haben würde, ihn zu gehen. Ihn erfasste Bitterkeit, und er dachte: Die Schergen zerstören solche Wege, und sie wissen es nicht einmal. Denn sie ahnen nicht, wie viel lebendiges Glück am Ende eines solchen Weges auf uns wartet.
»Die Anweisung zu deiner Verhaftung erging durch den zuständigen Alguacil in Toledo. Aber er wurde angeregt durch die königlichen Behörden im französischen Avignon. Kannst du dir das erklären?«
»Ich will dafür gar keine Erklärung suchen«, sagte Henri. »Es wird eine geben, aber das ist mir gleich.«
»Es geht um dein Leben!«
»Es geht um unser aller Leben, ihr Herren! Wir alle werden vor unseren Richter treten. Achtet darauf, dass ihr dann wohlwollend empfangen werdet!«
»Du wagst es!«
Der Kardinal hielt den Sekretär mit einer Geste zurück.
»Lasst ihn sprechen, solange er es noch vermag! Es ist das einzige Recht, das er noch hat. Seine Zukunft sieht recht wortlos aus. Henri de Roslin, du wirst einige Zeit in diesem Gefängnis bleiben. Es ist wohl müßig, hinzuzufügen, dass du kein Geld, kein Papier, keine Schreibfedern, noch sonstige Gegenstände bei dir behalten darfst. Du wirst allein sein, und niemand wird dich besuchen. Nur zu den Verhören sollst du deine Zelle verlassen dürfen.«
Der Sekretär des Offiziums, der sich jetzt auch als sein Fiskal erwies, ergänzte: »Du bist verpflichtet, deine gesamte Barschaft an uns auszuliefern. Wenn du über Vermögen verfügst, das du nicht bei dir trägst, wirst du es uns zugänglich machen. Denn wir müssen Vorlagen leisten. Die Kosten des Verfahrens trägst du allein, sie werden dir bei Freispruch von deinem Hab und Gut abgezogen. Bei Verurteilung fällt es in voller Höhe dem Königshaus und der Kirche zu.«
Also werdet ihr mich verurteilen, dachte Henri, denn ihr könnt rechnen.
»Verfügst du also über Vermögen?«
»Nur, was ich bei mir trug«, erklärte Henri wahrheitsgemäß.
»Nun, das werden wir unter der Folter verifizieren«, erklärte der Fiskal. »Alle anderen Auskünfte übrigens auch.«
»Wirst du abschwören, mein Sohn?«, fragte der Kardinal.
»Ich habe nichts abzuschwören«, erwiderte Henri leise.
»Wenn du nicht abschwörst«, fuhr der Kardinal unbeirrt fort, »sondern verstockt bleibst, dann beginnt man morgen früh mit der Tortur. Du wirst sie so lange erleiden, bis du deine Häresie bereust und abschwörst. Und ich kann dir mitteilen, das kann lange dauern, und es bereitet große Schmerzen und nie heilende Wunden.«
Henri standen sofort die Bilder der gefangenen und gefolterten Brüder im Tempel von Paris vor Augen, er dachte auch an seine eigene Folter in Fontainebleau. Er spürte die seelische Wunde, die ihm diese Erinnerung bereitete, denn er hatte sie trotz seines Versprechens nicht retten können. Er wollte seinen Anklägern etwas entgegenschleudern. Aber er schwieg. Stattdessen sah er sich um. Konnte er sich durch einen Sprung durch die Fenster in Sicherheit bringen? Selbst wenn er dabei starb – alles war besser, als den Folterknechten ausgeliefert zu sein. Aber die Fenster waren vergittert. Es gab kein Entkommen.
»Führt ihn ab!«
Harte Fäuste packten ihn.
»Ich bin kein Ketzer«, rief Henri. »Ihr habt kein Recht, mich gefangen zu setzen!« Aber gleichzeitig schämte er sich für diese Worte. Und ein gelangweiltes Gelächter aus dem Verhandlungsraum zeigte ihm auch, dass sie sinnlos waren.
Das Lachen seiner Ankläger klang noch in seinen Ohren, als er wieder in seiner Zelle saß. Es war ein stockfinsteres Verlies, und er sank auf der Holzpritsche zusammen. Nun gut, dachte er, das ist meine augenblickliche Lage. Ich erlebe sie nicht das erste Mal. Und ich werde mich dagegen wappnen.
Er begann leise, die Ordensregeln des Zisterziensers Bernhard von Clairveaux herzusagen, die dieser dem Templerorden gegeben hatte, um seine Anerkennung vor dem Heiligen Stuhl zu erreichen. Henri hatte sie als Tempelritter auswendig gelernt. Er sagte sie sich immer wieder vor, mal leise, mal laut, mal stumm. Henri wusste, Bernhard hatte die Regeln nach dem Heiligen Benedikt von Nursia formuliert – hatte dieser heilige Mann auch die Erfahrung machen müssen, dass sie einen Gefangenen vor dem Verrücktwerden bewahren konnten?
Wenn du etwas Gutes beginnst, bestürme Gott beharrlich im Gebet, er möge es vollenden.
Henri kniete nieder und betete.
Nach einer Weile ertönte draußen ein Poltern. Die Tür wurde aufgerissen. Für einige Momente drangen Licht und der Geruch von Schweiß und Urin zu ihm herein. Wächter warfen ihm etwas zu, dann fiel die Tür wieder ins Schloss.
Henri tastete nach dem fremden Gegenstand. Es schien eine Kiste zu sein. Dann hörte er ein Quieken. Seine Finger berührten ein Fell, eine nagende, heiße Schnauze. Sie hatten ihm Ratten in die Zelle geworfen!
Henri blieb ruhig. Er lauschte auf die Geräusche, die sie beim Herumlaufen machten. Ein Tier ging an ihm hoch. Er packte es und schmetterte es gegen die Wand. Das Quieken erstarb. Henri gelang es nach und nach, auch die anderen klumpigen Knäuel zu packen und zu töten. Es waren insgesamt sieben. Er kehrte sie mit dem Fuß an die Tür und blieb abwartend sitzen. Er wusste, sie würden sich noch etwas anderes ausdenken.
Henri schloss die Augen. Er öffnete sie wieder. Die Dunkelheit blieb.
Dennoch hatte er das Gefühl, bei geschlossenen Augen besser nachdenken zu können. Wenn man die Augen aufmacht, dachte er, ist man in der wirklichen Welt, egal, wie sie aussieht. Schließt man sie, ist man in seinem eigenen Kopf. Das ist seltsam. Gibt es diese beiden Welten? Ist das nicht gefährlich? Und hat unser Schöpfer das so gewollt?
Henri wollte nicht weiter darüber nachdenken. Überhaupt wusste er, es war das größte Problem für einen Eingesperrten, nicht in einen Strudel von Gedanken zu geraten, der ihn hinabriss. Da nichts zu tun blieb, außer zu warten und nachzudenken, war diese Gefahr groß. Er hatte es schon oft erlebt.
Wieder dachte Henri an die Ordensregeln. Der Schluss fiel ihm ein, in dem es um die Gerechtigkeit ging. Wenn du zum himmlischen Vaterland eilst, wer immer du bist, nimm diese Regel als Anfang und erfülle sie mit der Hilfe Christi. Dann wirst du unter dem Schutz Gottes zu den Höhen der Lehre und der Tugend und der Gerechtigkeit gelangen. Amen.