Nach einer Weile stand er auf. Er ging in der kleinen Zelle von Wand zu Wand und dachte an seine Gefährten. Was würden sie tun, wenn es gewiss war, dass er im Gefängnis einsaß? Er vertraute auf Joshua. Vielleicht würde er genau das tun, was er selbst vorgehabt hatte, nämlich Uthman ibn Umar zu benachrichtigen. Ich sollte, dachte Henri, den Sarazenen immer bei mir behalten, denn er war immer mein Retter in der Not. Was machst du in Cordoba, Uthman?, dachte Henri. Ich brauche dich! Kannst du mich hören? Hat mich mein Studium der Kabbala so weit gebracht, dass ich deinen Namen anrufe, und du hörst mich und folgst meiner Stimme?
Ich hätte den Weg der Lektionen bis ans Ende gehen sollen. Dann hätte ich Gewissheit.
Die Tage und die Nächte vergingen. Henri konnte sie nicht unterscheiden. Er maß sie daran, wann ihm eine Blechschüssel mit einer dünnen Suppe in die Zelle geschoben wurde. Auf diese Weise kam er auf weitere zwölf Tage nach dem ersten Verhör. Vor seine Ankläger führte man ihn noch dreimal. Die Fragen, die man ihm stellte, blieben gleich, Henri schloss daraus, dass die Iberer ihm nicht wirklich den Ketzerprozess machen wollten. Und was bedeutete dies?
Sie würden ihn nach Frankreich abschieben.
Er würde in die Hände Ferrands fallen.
Nach einer endlos langen Zeit in Dunkelheit und Schweigen war vor der Zelle ein Rumpeln zu hören. Wächter kamen herein, warfen ihm ein Sackleinen über den Kopf und banden es am Hals fest. Sie fesselten seine Hände auf den Rücken und stießen ihn vorwärts. Henri stolperte nach draußen.
Plötzlich lag warmer Sonnenschein auf seiner Haut. Warme, frische Luft drang in seine Lungen. Sie hatten ihn ins Freie geführt! Henri atmete tief ein und spürte ein überwältigendes Glücksgefühl. So schmeckte das Leben!
In seiner Nähe waren Stimmen zu hören, die unwillig und drohend klangen. Es entstanden ein Wortgefecht, danach Rufe. Jemand hieb ihm roh die Fäuste in den Rücken und knurrte: »Troll dich!« Henri stieß gegen die Aufbauten eines Karrens, er nahm den Geruch von Pferden wahr und hörte ihr Schnauben. Dann fiel er auf feuchtes Stroh, man zog ihn in den Karren. Eine Peitsche knallte, schwere Holzräder begannen über holpriges Pflaster zu rumpeln.
Anfänglich drang noch Sonnenlicht durch die Risse im Karrendach, dann wurde es dunkel und kühl. Henri bekam nichts zu essen und nichts zu trinken. Und die Fahrt ging immer weiter.
»Endlich bist du hier, Uthman! Ich freue mich so, dich zu sehen! Sei willkommen!«
»Unser aller Gott sei mit dir, Joshua! Auch ich bin glücklich, wieder in deiner Nähe zu sein!«
»Sean ist wohlauf?«
»Er blieb wohlgemut in Cordoba und darf die Bücher studieren, deren Weisheit allerdings nur sehr langsam an die Stelle seines ungestümen Übermutes tritt. Aber er ist noch jung. Ich ließ ihn in der Obhut meines Magisters zurück. Er wird dort warten, bis ich zurück bin.«
»Das ist gut. Aber nun höre. Es gibt viel zu tun, und wir müssen schnell handeln.«
»Es geht um Henri, ich weiß. Sprich!«
»Wir wissen inzwischen, wo sie ihn eingesperrt haben. Er ist im Kerker des Kardinalspalastes, und man wird ihn entweder der Ketzerei anklagen oder nach Frankreich abschieben. Dahinter steckt Ferrand de Tours. Man munkelt, ihn seit einigen Tagen in Toledo gesehen zu haben. Er ist ein abscheulicher Mensch, voller Hass auf andere, vor allem auf uns Juden und auch auf euch Sarazenen. Man munkelt weiter, er hat einen Haufen wüster Gesellen um sich geschart. Ich weiß nicht, warum er zurückkehrte und was er vorhat. Aber wenn er tut, was ich befürchte, dann müssen wir ihn aufhalten.«
»Was meinst du?«
»Er will Henri in seine Gewalt bringen und nach Frankreich überführen. Ob tot oder lebendig, das liegt in seiner Hand.«
»Wird man Henri unterdessen foltern?«
Joshua sagte betrübt: »Jederzeit. Sie haben ihn schließlich in ihrer Gewalt. Aber bis sie entscheiden, was sie mit ihm vorhaben, müssen sie aufpassen. Es könnte ja sein, dass sie doch beschließen, ihn frei zu lassen, dann macht es keinen guten Eindruck, wenn er als Unschuldiger gebrochene Glieder hat. Du weißt, Foltern gehört zu ihrem Gefühl für Gerechtigkeit.«
»Könnte es auch sein, dass die so genannten Glaubenswächter von Toledo Henri hier anklagen?«
»Es ist denkbar.«
»Mit welchen Beschuldigungen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Nein – das werden sie nicht tun. In Iberien liegt nichts gegen ihn vor. Sie werden ihn ausliefern, damit ihm in Frankreich der Prozess gemacht werden kann.«
»Ja, das ist wahrscheinlicher.«
»Also müssen wir uns darauf vorbereiten, ihn zu befreien.«
»Wenn es nicht schon zu spät ist.«
»Wie bringen wir darüber etwas in Erfahrung?«
»Theophil muss uns helfen. Er hat Einfluss im Stadtrat. Er muss zunächst herauskriegen, ob Henri sich überhaupt noch im Kardinalspalast befindet und was man mit ihm vorhat.«
»Beeilen wir uns.«
Henri glaubte einmal Ferrands Stimme unterscheiden zu können. Aber er bekam ihn nicht zu Gesicht, auch nicht in den Pausen, in denen er seine Notdurft verrichten konnte. Stattdessen lüfteten andere hin und wieder die rechte Seitenplane und starrten zu ihm herein. Es waren keine Vertrauen erweckenden Gesichter, und ihr Lachen war es noch weniger.
Der von zwei Pferden gezogene Karren ratterte dahin. Wohin brachte man ihn? Wenn er im Freien war, versuchte Henri, sich zu orientieren. Sie waren inzwischen im Gebirge. Und da die Sonne abends zur Linken unterging, schloss er daraus, sie bewegten sich nach Norden. Natürlich!, dachte er, sie bringen mich nach Frankreich! Vielleicht ins Inquisitionsgefängnis von Avignon, vielleicht in den Kerker von Paris. Würde dort Guillaume de Imbert auf ihn warten, der Generalinquisitor, den man nur »de Paris« nannte?
Henri wurde hin und her geworfen, schmerzhaft stießen seine gefesselten Glieder gegen die rohen Sparren des Holzkäfigs, in dem er kauerte. Henri versuchte, sich auf dem mit stinkendem Stroh ausgelegten Boden so hinzusetzen, dass seine Wunden nicht schmerzten, aber das gelang ihm nicht, er wurde immer wieder gegen die Ecken und Kanten des elenden Gefährts geworfen. Es war der Karren eines Schinders, über den das schwarze Tuch mit dem roten Kreuz der Inquisition gedeckt war, vorn zwei kräftige, aber inzwischen müde Zugtiere, auf dem Bock ein Landsknecht mit Spießen rechts und links.
Wieder hielt der Karren an. Und jetzt erblickte Henri seinen Widersacher Ferrand de Tours.
Die Bewacher holten Henri heraus und stellten ihn vor den Karren. Der Tempelritter erblickte im Hintergrund die Häuser eines Ortes. Ferrand trat auf ihn zu. Er baute sich dicht vor ihm auf und schlug ihm ins Gesicht. Unter den Schlägen sagte er:
»So, Jude, jetzt kannst du zusehen, wie es deinesgleichen ergeht. In Nordspanien herrschen inzwischen strengere Gesetze, als du sie kennst. Und wenn wir später die Grenze nach Frankreich überschreiten, dann wirst du begreifen, dass es ein Fehler war, zu konvertieren!«
Henri biss die Zähne zusammen und schwieg. Er sah zu, wie die Männer im Gefolge Ferrands in den Ort einritten. Dort trieben sie die Einwohner aus den Häusern. Die Menschen trugen den gelben Judenfleck auf ihrer Brust, der nach dem Willen ihrer Feinde ein Geldstück darstellen sollte. Man trieb sie zusammen und führte sie zur Synagoge, diese war ein unscheinbarer, flacher Bau mit einem fünfeckigen Turm. Dort wurden sie eingesperrt. Und dann begann die Soldateska mit der Plünderung. Alles, was die Dorfbewohner an Hab und Gut besaßen, warf man in den Staub der Gasse und teilte es auf. Im Hintergrund wurde das Tor der Synagoge hinter den Gefangenen verrammelt. Die Meute legte Feuer. Lichterloh brannte die Synagoge.