Henri musste mit ansehen, wie das einzige Fenster der Synagoge barst und die Menschen versuchten, sich dadurch ins Freie zu retten. Doch die Männer Ferrands erwarteten sie dort und metzelten sie johlend mit Schwertern und Piken nieder.
Henri zerrte an seinen Fesseln. Er versuchte, die Seile am Wagenrad durchzuscheuern. Doch ein Bewacher erkannte seine Absichten und schlug ihm den Knauf seines Schwertes seitlich gegen den Kopf. Henri stürzte zu Boden.
Im Liegen sah er den Rauch der Synagoge aufsteigen. Und er hörte Schreie. Plötzlich erblickte er in der Fensterhöhle eines der ersten Häuser ein Kindergesicht. Es gehörte einem Mädchen. Seine großen Augen starrten zu ihm herüber, blickten ihn angsterfüllt an. Henri hoffte, sein Bewacher würde die Kleine nicht entdecken. Er machte dem Kind mit dem Kopf ein Zeichen, vom Fenster zu verschwinden und sich zu verstecken.
Die Kleine weinte, aber sie gehorchte.
Vielleicht, dachte Henri, wird sie die einzige sein, die das Wüten überlebt.
Nach einer Weile kam die Soldateska Ferrands zurück. Sie lachte und schleppte Beute mit sich. Einer hatte Schafe zusammengebunden und zog sie hinter sich her. Vom Hals eines anderen baumelten drei kopflose Hühner. Ferrand trug in einem Sack das klirrende Silbergerät aus der Synagoge.
»So lohnt sich die Reise!«, schrie einer.
Und ein anderer schrie zurück: »Na und? Wir müssen schließlich mit irgendwas unsern Schnaps bezahlen!«
»Da hat er doch Recht, nicht wahr?« Ferrand war zu Henri getreten. In seinem geröteten, verschwitzten Gesicht stand ein hässliches Lächeln, seine Blicke waren unstet. »Was sagst du zu deinen Brüdern, die sich so klaglos ergeben, Jude? Ist es nicht ein Schuldeingeständnis, sich ohne Gegenwehr abschlachten zu lassen?«
»Du wirst für alle diese Taten sterben, Ferrand!«, erwiderte Henri mit fester Stimme.
»Wir sterben alle, Mann. Es ist Gottes Ratschluss! Und man will doch wenigstens was mitnehmen!«
»Hast du keine Angst vor dem Urteil Gottes, Ferrand, wenn du vor die Schranken des Weltgerichtes trittst?«
»Hast du mich das nicht schon einmal gefragt? Und wie war wohl meine Antwort? Ich tue nur, wozu jeder Christenmensch aufgerufen ist, der uns vor dem Unheil bewahren will, das die Juden über uns bringen wollen. Was soll daran verwerflich sein?«
»Du mordest und brandschatzt! Sagt dir nicht dein Menschenherz, das sei Unrecht?«
»Mein Menschenherz sagt mir: Tod den Ungläubigen, Tod den Brunnenvergiftern, Tod den Christenschändern!«
Ferrand wandte sich abrupt ab.
Henri rief ihm nach: »Wohin bringst du mich?«
Ferrand de Tours drehte sich um und sagte: »Dorthin natürlich, wo auf dich Gerechtigkeit wartet, wohin sonst?«
Nach einer Nacht am Rand des verwüsteten Ortes, in der Henri kein Auge zumachte, ging es noch vor Sonnenaufgang weiter. Die Soldateska hatte gesungen und getrunken, jetzt zog man mürrisch nach Norden. Sogar die Reittiere schienen schlecht gelaunt zu sein. Und Henri dachte fieberhaft darüber nach, wie er sich aus der Gewalt Ferrands befreien konnte.
Wohin Ferrand ihn auch immer bringen mochte – vielleicht nach Avignon, vielleicht nach Paris –, auf Henri wartete dort der Tod. Denn sie würden Gründe konstruieren, um ihn hinzurichten. Henri wunderte sich darüber, dass sie überhaupt einen Gerichtsprozess anstrengten. Was bezweckten sie damit? Sie konnten ihn doch jederzeit erschlagen und verscharren! In diesen rechtlosen Zeiten konnte man das mit jedem machen.
Jenseits der Sierra de Guadarama lag Segovia. Aber die Horde zog an der alten Stadt mit ihren dicken Mauern vorbei und bewegte sich durch die Ebene weiter in Richtung Nordosten. So kamen sie in das Königreich Aragon, dessen Grenze inzwischen von König Jakob dem Gerechten geöffnet worden war, und erreichten Zaragoza.
»Man hat Henri weggeschafft. Wir kommen zu spät. Niemand kann uns sagen, wohin sie ihn bringen werden.«
Theophil von Speyer war auf seinem Sitz zusammengesunken. Mit seinem fahlen Gesicht unter der weißen Haarmähne wirkte er wie ein Mann, der sich aufgegeben hatte. Joshua und Uthman bedrängten ihn.
»Hat der Oberrabiner sonst nichts erfahren?«
»Nein.«
»Theophil! Es muss möglich sein, herauszufinden, wohin man Henri bringt! Sicher nicht nach Süden über die Straße an den Katarakten. Sie werden ihn nach Frankreich transportieren, dann gibt es nur drei Wege. Nach Osten, nach Nordosten, nach Norden. Das muss doch zu klären sein!«
»Wir stellen einen kleinen Trupp zusammen«, warf Uthman ein, »und teilen uns. Je zehn Leute folgen Ferrand und seinen Leuten. Irgendwo holen wir ihn ein und stellen ihn zum Kampf. Wir müssen Henri befreien!«
»Das ist klar!«, sagte Joshua. »Aber wir dürfen uns nicht zersplittern! Nein, wir müssen einen weiteren Versuch machen, ihre Route herauszukriegen. Theophil, du musst es noch einmal versuchen! Gehe persönlich zum Kardinalspalast! Tue alles! Inzwischen befragen wir die Wächter an den Ausfallstraßen. Es muss aufgefallen sein, wenn eine Horde Franzosen mit einem Gefangenentransport Toledo verließ.«
»Wenn wir nicht zuviel Zeit verlieren wollen, müssen wir bis heute Abend Bescheid wissen«, erwiderte Uthman. »Bis dahin brauchen wir zwanzig Mann, die uns begleiten. Und wir müssen noch in der Nacht aufbrechen.«
»Woher willst du zwanzig Krieger nehmen, Sarazene?«
»Es werden Sarazenen sein, die sich, wie ich, tagsüber hinter gelehrten Schriften verstecken, um nachts in ihre Schlachtengewänder zu schlüpfen. Verlass dich auf mich!«
»Gut«, sagte Theophil, jetzt wieder hoffnungsvoller. »Ich gehe sofort zum Kardinalspalast. Wir treffen uns wieder hier in der Übersetzerschule.«
»Um sechs Uhr!«
Joshua ritt zur Brücke von San Martin. Unter dem arabischen Hufeisenbogen des Turms, dessen Wappenschilder der vasallentreuen Hidalgos gerade neu ausgemalt wurden, befragte er die Wachposten. Doch sie sahen ihn nur misstrauisch an, obwohl er keine Judenkleidung trug, und bedeuteten ihm mit obszönen Gesten, er solle verschwinden.
Uthman versuchte, im arabischen Viertel hinter der Kirche Santiago del Arrabal jenseits der Stadtmauer Verbündete zu finden. Hier, im Schatten der Kirche, wohnten seine Sarazenen, und er befragte sie. Doch er hatte kein Glück. Sie waren ängstlich, weil die christlichen Behörden die Gesetze gegen sie verschärfen wollten. Keiner wusste etwas über Henri de Roslin. Und nur zwei junge Männer holten wortlos ihre Waffen und hielten sich bereit.
Theophil hatte mehr Glück. Ein Schreiber des Kardinalspalastes, der in der jüdischen Übersetzerschule Hebräisch gelernt hatte, flüsterte ihm zu: »Vor vier Tagen verließ in aller Herrgottsfrühe ein verhängter Karren den Hof. Draußen warteten mehrere wilde Reiter. Das könnte der Transport mit eurem Mann gewesen sein, Jude!«
»Welche Richtung nahmen sie?«
Der Schreiber zuckte die Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich schreibe Manuskripte ab und beobachte nicht die staubigen Verkehrswege.«
Als Theophil schon gehen wollte, lief ihm ein Scholar hinterher. »Meister Theophil! Wartet einen Moment! Ich glaube, sie sind nach Norden, in Richtung auf Segovia, aus der Stadt geritten. Denn mein Bruder, der Ministrant in Santa Maria la Bianca ist, erzählte mir, ein mit der Decke der Inquisition verhängter Karren habe am Morgen des fraglichen Tages eine junge Katze überfahren. Ja, direkt vor dem Eingang! Und einer der rohen Männer habe sie mit einem Fußtritt ins Paradies befördert. Denkt Euch nur!«
»Ein verhängter Karren und mehrere Bewaffnete als Begleitung?«
»Darunter ein paar Rotbärtige, Normannen oder so, aus dem Norden. Es muss – wartet – vor vier Tagen gewesen sein, sie feierten die Messe zu Bartholomäus.«
Theophil war sich sicher, dass das die richtige Spur war. Und er beeilte sich, seine Gefährten zu treffen, um ihnen das noch vor dem Abend zu sagen.