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Die Gassen Zaragozas waren von Lärm erfüllt. Scharen von Geißlern zogen dahin, die Männer mit entblößtem Oberkörper, langen Haaren und Bärten, die Frauen in zerfetzten Kleidern und mit bloßen Füßen. Immer wieder klatschten ihre Flügellos, die Lederriemen, auf ihre nackte Haut und ließen sie aufplatzen, Blut rann aus den Wunden. Aber im Gegensatz zu ihren gemarterten, ausgezehrten Körpern waren die Gesichter der Büßer stark und kräftig, wie erfüllt von einer geheimnisvollen Botschaft. Und in ihren Augen leuchtete die Gewissheit, zu den Auserwählten zu gehören. Ihr blutiges, schmerzerfülltes Tun schien es den Umstehenden zu beweisen, denn fügte sich Schmerzen freiwillig nicht nur jemand zu, der genau wusste, was er zu büßen hatte? Und sie büßten es für alle anderen.

»Das Weltzeitalter geht zu Ende! Überall herrscht Hungersnot! Heraus auf die Straßen! Das Ende steht vor der Tür!«

Henri de Roslin sah und hörte diese Vorgänge durch die Risse im Karren, in dem er noch immer kauerte. Der Karren rumpelte durch die Gassen, offenbar steuerte Ferrand ein bestimmtes Ziel an. Unter die klagenden Stimmen mischten sich andere, die in höchsten Tönen schrien und kreischten. Henri hörte auch den dumpfen Klang von Tambourinen und kleinen aragonesischen Trommeln. Monotone, immer wiederkehrende Beschwörungsformeln unsichtbar bleibender Menschen lagen in der Luft und flogen von Straßenseite zu Straßenseite, von Kirche zu Kirche wie der todesgesättigte, schwere und unergründliche Rhythmus eines Trauerchores. Sie haben Angst vor dem Jüngsten Gericht, dachte Henri. Und steht es nicht tatsächlich vor uns? Brechen nicht längst alle Dämme von Menschlichkeit und christlicher Moral?

»Die irdischen Reiche sind Tand, denn alles auf der Welt ist vergänglich! Nur die göttliche Zeit zählt! Und ihre Herrschaft ist angebrochen! Bereitet euch vor auf die Abrechnung!«

Henri verfluchte den Pferdekarren, in dem er hin und her geworfen wurde. Längst besaß er Hautabschürfungen an allen Gliedern. An seinen Knien und Ellenbogen hatten sich blutende Geschwüre gebildet. Und er verfluchte ausnahmslos alle jene Menschen in dieser Zeit, die nicht in der convivencia, der Toleranz unterschiedlicher Kulturen und Glaubensbekenntnisse, leben wollten. Denn dadurch wurde das Leben auf der Erdenscheibe zur Hölle für alle.

Der Karren hielt. Als Henri hinausspähte, nahm er einen Hof wahr. Und er hörte die Stimme Ferrands. »Er ist ein Gefangener der französischen Krone und wird nach Avignon überführt. Hier ist das Beglaubigungsschreiben des Inquisitionsgerichtes in Toledo.«

»Wir lange sollen wir ihn einsperren?«

»Nur eine Nacht. Wir müssen Proviant und Wasser kaufen, und einige Dinge sind zu regeln. Morgen früh ziehen wir weiter!«

Henri wurde herausgezerrt und in eine Zelle gebracht. Zum ersten Mal seit Tagen stand er wieder aufrecht auf festem Boden. Er begann, herumzugehen, und merkte dabei, wie seine Beine zitterten. Er reckte sich und trat an das winzige Zellenfenster. Es ging auf einen Platz hinaus. Draußen stand eine Menschentraube und sah den Büßern zu. Viele hatten flehentlich die Hände zum Himmel erhoben.

»Reinigt euch! Unsere Zeit vergeht im Fluge! Nur die göttliche Zeit ist unvergänglich! Ihr habt euch eingebildet, auf sicherer Erde zu wandeln, nun seht ihr euch, wie ihr wirklich seid, inmitten der Schöpfung herumirrend wie körperlose Seelen im Fluge!«

Henri wandte sich ab und ging erneut in der Zelle umher, um seine Glieder wieder zu stärken. Er beobachtete die Spinnen in ihren Netzen, die von den Wänden bis zum Boden herabhingen. Aber das Geschrei von draußen trieb ihn bald wieder an das Gitter zurück.

Ein Waschweib direkt unter seinem Fenster rief aus: »Der Herrgott stehe uns allen bei! Jetzt packt er uns am Schlafittchen!«

»Mume, schwatzt nicht so!«, erwiderte ein Mann mit einer blutgetränkten Schürze eines Fleischhauers. »Durch Gerede wird alles noch schlimmer! Schon wollen meine Tiere nicht mehr zur Schlachtbank. Es ist, als seien sie vom Teufel besessen.«

»Und meine Kinder hören auch nicht mehr auf mich! Die Zeit steht auf dem Kopf, Hombre!«

Henri sah in diesem Moment, wie Ferrand mit zwei seiner Männer den Platz überquerte. Sie trugen zwei Beutel auf dem Rücken. Es ist ihr Diebesgut aus der Synagoge, dachte Henri, sie verhökern es in Zaragoza, wo man dafür Höchstpreise zahlt, das ist es, was sie hier zu tun haben.

Während er schaute, hörte er, wie unten einer der Gaffer sagte: »Oben im Heiligen Römischen Reich regnet es Feuer vom Himmel, und die Ernte verfault. Schon sind Tausende verhungert. Es gibt Mord und Totschlag, der Schnitter geht um, und die heiligen Brüder in den Klöstern rüsten sich zur Wallfahrt nach Jerusalem, wo sie das Gericht überleben zu können glauben.«

»Dort soll auf einem Stern ein Engel niedergegangen sein und hält seitdem Gericht über die Sünder.«

»Ja«, erwiderte ein Bürger bedächtig, »wir haben alle gesündigt. Aber ich habe immer ehrliche Geschäfte gemacht, ich komme in den Himmel.«

»Ay!«, schrie daraufhin ein Tagelöhner, »er kommt in den Himmel! Brüder, hier seht ihr einen, der schon einen Platz neben dem Herrgott gemietet hat! Wie viel Goldflorins kostet so ein Platz im Himmel, Señor?«

Henri drückte sein Gesicht ans Gitter, um besser sehen zu können. Der Kaufmann, der ebenfalls direkt unter ihm auf der Straße stand, sah das von Beulen entstellte Gesicht des Tagelöhners angewidert an. »Still, Kerl! Für rechtschaffene Menschen gibt es keine Gemeinsamkeit mit Sündern, wie du es bist. Denn das Reich Gottes ist nicht für jeden eine Bedrohung, sondern der erstrebte, letztgültige Ausweg. Ich sehne die Abrechnung herbei…«

Henri sah weitere Büßer herankommen. Eine endlose Schlange schlurfender Männer und Frauen. Auch Kinder waren vereinzelt darunter. Sie führten Hunde und Ziegen mit sich. Ihr Anführer trug ein schweres Holzkreuz auf seinem Rücken, unter dessen Last er ganz gebeugt ging und einmal stürzte.

Im Hintergrund bemerkte Henri in diesem Moment einige dunkle Gestalten. Er kannte diesen Anblick. Sicher waren es Agenten, die im Auftrag von Kirche und Staat das Geschehen misstrauisch im Auge behielten. Zwar nützte es den Ordnungsmächten, wenn die Angst vor dem Strafgericht die Bürger beutelte, denn umso leichter konnten Gesetze des Offiziums und der Krone durchgesetzt werden. Aber der Fanatismus der Büßer durfte auch nicht Überhand nehmen. Man konnte ja nicht wissen, zu welchem Ungehorsam gegen die Autoritäten die Glaubensfanatiker im Angesicht des Jüngsten Gerichts aufriefen.

Henri setzte seine Wanderung in der kleinen Zelle fort. Sechs Schritte voran, sechs seitwärts, sechs zurück.

Langsam senkte sich die Nacht herab. Draußen wurden Feuer in Pechpfannen angezündet. Henri roch ihren Rauch, sah das Flackern des Lichts. Die Menschen schrien weiter, die Geißler gingen im Kreis und ließen ihre Peitschen auf die nackte Haut klatschen. Hunde bellten.

Henri dachte darüber nach, welche Vorstellung von den nahenden Qualen des Absturzes in die ewige Finsternis er selbst hatte. Himmel und Hölle waren für ihn keine Einbildungen, sondern wirklich existierende Kontinente, auf die irgendwann jeder Christ und Sünder verbannt wurde. Es war nur eine Frage der Zeit. Und schien nicht jetzt der Zeitpunkt der Abreise tatsächlich gekommen zu sein? Wir Menschen, dachte er, werden damit zurückkehren in unsere eigentliche Heimat – die Ewigkeit. Aber einigen wird diese Heimkehr fürchterliche Schmerzen bereiten. Würde er selbst zu diesen gehören?

Er hatte den treulosen Papst Clemens ermorden lassen. Und den ruchlosen König Philipp hatte er mit eigener Hand getötet.

Henri lauschte nach draußen. Sie verkünden das Ende der Welt, dachte er, aber stellen sie es nicht selbst dar? Denn sie tun nichts dafür, dass es besser wird.

Was habe ich je dafür getan?

Es war nicht die Stunde seiner eigenen Rechenschaft. Henri suchte in seinem Gedächtnis einen Vers aus der Ordensregel und sagte ihn leise auf. Kehre durch die Mühe des Gehorsams zu dem zurück, den du durch die Trägheit des Ungehorsams verlassen hast. Was soll ich tun, Herr? Henri überfiel plötzlich das Gefühl, eine Antwort zu brauchen. Irgendeinen Trost! An dich also richte ich jetzt mein Wort, wer immer du bist, wenn du nur dem Eigenwillen widersagst