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Was ist der richtige Weg, Herr? Zeig ihn mir!

Draußen schrie eine Frau: »Die Zeit erreicht ihre Fülle, sie vollendet sich, und mit dem Ende der Zeit bricht das Reich Gottes an! Oh, wir Sünder, bereiten wir uns vor auf den Tag der Abrechnung!«

Ist es das?, dachte Henri. Lassen wir alles einfach gewähren und richten uns auf die spätere Zeit ein, denn alles ist von Gott gewollt? Müssen wir nicht schon jetzt etwas tun gegen die Verwahrlosung und den Verfall?

»Der Messias ist nahe! Schon sehen wir sein Licht in der Finsternis der Welt! Herr, komm und richte uns!«

Ja, Herr, dachte Henri mutlos. Komm und richte uns ohne Ausnahme. Denn keiner von uns besitzt eine Ausrede, um verschont zu werden.

Sie ritten zu viert. Joshua hatte es sich nicht nehmen lassen, dabei zu sein. Aber im Ernstfall würden nur Uthman und seine beiden sarazenischen Brüder mit ihren Waffen etwas ausrichten können. Joshua wusste, dass ihm im Kampf höchstens die List des Hintergründigen blieb. Aber manchmal brauchte man auch dann, wenn die Waffen sprachen, die Macht des listigen Gedankens.

Ein Zöllner, den Joshua mit einem Goldstück schmierte, wollte den Gefangenentransport auf dem Weg nach Zaragoza gesehen haben. Also schlugen sie den Weg dorthin ein, obwohl Uthman diesen Zwischenaufenthalt für Zeitverschwendung hielt.

»Sie sind sicher weitergeritten. Denn was sollen sie in dieser kastilischen Stadt der Bigotten?«

»Sehen wir nach!«

Als sie am Abend nach Zaragoza kamen, erlebten sie eine Stadt in Aufruhr. Auf allen Plätzen der Stadt das gleiche Schauspiel einer erregten Menschenmenge, die betete, durcheinander schrie und sich geißelte. Mönche lagen auf den Knien und sangen mit vorgereckten, gefalteten Händen den Himmel an. Andere standen stumm und ergriffen oder vom Schauspiel erregt dabei. Alle schienen auf Zeichen zu warten.

»Sie wissen nicht mehr weiter«, sagte Joshua. »Ihr Kirchenlatein ist am Ende.«

Einer der ihn begleitenden jungen Sarazenen, ein Maure aus der Vorstadt von Toledo, meinte: »Christen glauben dauernd, dass der Zeigefinger Gottes sie berührt. Sie halten sich für wichtig.«

»Das stimmt«, pflichtete ihm sein Gefährte bei. »Sie können sich Anfang und Ende des irdischen Lebens nicht vorstellen, und das Mittendrin ist ihnen durch Weihrauchschwaden vernebelt.«

Sie lachten. Aber Uthman ermahnte sie: »Macht euch nicht über die Christen lustig. Auch wir Muslime kennen die Geheimnisse der Schöpfung nicht. Und glauben wir nicht auch ständig, in einer bedeutenden Stunde zu leben, in die sich Allahs Atem und Geist ergießen?«

Sie ritten weiter zur Plaza Mayor, um dort Nachforschungen anzustellen, und wenn es sein musste, ein Quartier zu suchen. In den wettergeschützten Kolonnaden waren verderbliche Waren abgestellt, Bürger wickelten Geschäfte ab. Überall flackerten Feuer, man verbrannte Abfall in Tonnen. Die Brise aus den nahen Bergen fachte Funkenregen von Pechfackeln an.

Am Rand des offenen, gepflasterten Platzes ritten junge Hermandades auf stolzen Pferden, die hier ihre militärische Grundausbildung bekamen. Auf der anderen Seite lärmten und wehklagten Geißler. Direkt daneben, unberührt vom Trubel, deklamierten Gaukler ein Stück, in dem die Passionsgeschichte Christi dargestellt wurde. Zur Truppe gehörten auch zwei Feuerschlucker. Die beiden bärenstarken Männer hielten Fackeln an ihre Münder und spien einen Brennstoff dagegen. Hell loderten die Flammen auf und rollten einige Meter hoch empor, bis sie zerstoben und über den Köpfen der Gaffer verlöschten.

Im Schein dieser Flammen sah es so aus, als wären schon Feuer speiende Dämonen aus der Hölle heraufgefahren und mitten am Werk, um den Menschen einen Vorgeschmack darauf zu geben, was sie bald erwartete.

»Wir teilen uns«, schlug Joshua vor. »Jeder fragt sich durch. Irgendwer wird etwas über Henri wissen. Ich selbst gehe zum städtischen Gefängnis.«

»Aber sei vorsichtig«, riet Uthman. »Allzu nachdrückliche Fragen wirken immer verdächtig – in diesen Tagen besonders.«

Die beiden jungen Sarazenen stiegen von ihren Pferden und führten sie am Zügel mit sich. Uthman ritt in die umliegenden Gassen. Als Joshua am Gefängnis ankam, erblickte er mehrere Ochsenkarren. Sie warteten vor dem Haupttor, als wären gerade Gefangene angekommen oder als würden Freigelassene zu transportieren sein. Er fragte einen Soldaten, der mit aufgerichteter Pike neben dem Tor stand.

»Hier gibt es jeden Tag Transporte«, antwortete der Mann unwillig auf Joshuas Frage. »Wie soll ich wissen, ob dein Verwandter darunter war!«

»Wer kann mir Auskunft geben?«

»Niemand! Wer in dieser Zeit im Gefängnis sitzt, über den gibt es nichts zu erfahren.«

Joshua bemerkte, wie in einem gegenüberliegenden Hauseingang eine Gestalt stand und zu ihm herübersah. Sofort schrillte in ihm eine Alarmglocke. Ein Spitzel!, dachte er. Joshua wandte sich ab und ging die Gasse hinunter. Am Ende erhob sich der Bau einer Kathedrale. Joshua bemerkte, auch ohne sich umzuwenden, dass ein Schatten ihm folgte. Er betrat die Kirche.

Im südlichen Querschiff setzte er sich. Die letzten Strahlen der tief stehenden Abendsonne schickten sich an, in feurigen Bündeln durch die ausladende Halle zu wandern, und tasteten sich über die hoch aufragenden Bündelpfeiler zum Tonnengewölbe empor. Joshua folgte dem letzten Licht, bevor es verlöschte, mit den Blicken. Könnten wir nur dort oben sein oder Licht sein, dachte er, und die Schwere dieses irdischen Jammertals hier unten verlassen! In diesem Moment flatterten drei weiße Tauben von einem mit Tierköpfen geschmückten Kapitell auf. Sie flogen mit wild schlagenden Flügeln quer durch das Kirchenschiff und machten für einen Augenblick die beeindruckenden Abmessungen des Raumes spürbar. Dann verschwanden sie durch die hohen, gebogenen Fensteröffnungen.

Neben Joshua kniete ein junger Mönch, dessen Kapuze sein Gesicht verbarg. Als Joshua den Kopf drehte, um ihn aus den Augenwinkeln anzusehen, sagte eine flüsternde Stimme: »Ihr sucht nach dem Mann, den sie im Karren der Inquisition aus Toledo gebracht haben?«

Joshua senkte den Kopf tiefer über seine gefalteten Hände. »Ja«, sagte er.

»Nun, er war im Gefängnis. Gestern morgen zog der Trupp, der ihn begleitete, weiter.«

»Seid Ihr sicher, Bruder?«

»Ganz sicher. Denn ich habe Seelendienst im Gefängnis. Und ein Transport, der nach Frankreich geht, kommt selbst hier nicht alle Tage an.«

»Gestern Morgen also?«

»Sie ritten in Richtung des Stadttores im Nordosten aus der Stadt heraus. Vielleicht wollten sie nach Navarra, vielleicht nach Katalonien, vielleicht nach Frankreich.«

»Ich danke Euch, Bruder!«

Der Mönch in der braunen Kutte bekreuzigte sich, stand auf und ging.

Auch Joshua verließ die Kirche. Seinen Verfolger bemerkte er nicht mehr. Er suchte nach seinen Gefährten. Im Gewühl der Menschen, die noch immer durcheinander schrien und beteten, tauchte er unter.

»Seht sein Licht in der Finsternis der Welt!«

»Mit ihm bricht unser Dasein ein in den großen Ozean der Schöpfung und versinkt darin, und so können wir endlich unser Jammertal verlassen und Wohnsitz nehmen auf den Inseln der Seligkeit!«

»Herr! Komm und richte uns!«

Joshua schob Menschen beiseite, als teile er das Rote Meer. Er hörte das Klatschen der Geißeln. Dann erblickte er Uthman. Der Gefährte stand unter riesigen Platanen, deren Blätter bereits fielen, obwohl es erst der jüdische Monat Elul war. Jetzt erblickte Joshua auch die beiden anderen Reisegefährten. Er winkte ihnen zu. Sich einen Pfad durch die erregte Menge zu bahnen, ging nicht ohne Knüffe und Flüche ab. Aber schließlich standen die Gefährten beieinander und beratschlagten sich. Auch einer der jungen Sarazenen hatte von einem Gefangenentransport am gestrigen Morgen gehört. Es bestand kaum ein Zweifel, dass sich Henri darin befunden hatte.