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Die Angreifer ließen sich nicht abschütteln. Henri de Roslin bemerkte, wie ein Kämpfer nach dem anderen aus Ferrands Reihen zu Boden sank. Das waren kampferprobte Recken, also mussten die Angreifer ihr Handwerk verstehen. Außerdem waren sie zahlenmäßig überlegen.

Henri fühlte sich wehrlos und wünschte sich eine Waffe. Er versuchte, seine Fesseln an der Pike des soeben Getöteten aufzuschneiden. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihm auch.

Er rieb sich die schmerzenden Handgelenke, an denen er schon die Narben der Haft von Fontainebleau besaß, und sprang auf die Beine. Seine Arme waren wie abgestorben. Er versuchte, das Blut in den Gliedern durch heftige Bewegungen zirkulieren zu lassen. Dann nahm er die Pike des Getöteten auf und stürzte vorwärts.

Die heikle Lage, in der er sich befand, war ihm bewusst. Er hätte fliehen können. Aber einer feindlichen Mordbande, die vielleicht die ihm unbekannte umliegende Gegend terrorisierte, war er allein noch stärker ausgeliefert. Also beschloss er, sich am Kampf zu beteiligen. Sollte die Gelegenheit ihm günstig erscheinen, vielleicht beide Seiten ausreichend geschwächt sein, musste er sich entscheiden.

Henri durchbohrte einen der unbekannten Angreifer mit der Pike. Der Mann drehte sich ungläubig halb zu ihm um. Als Henri die Waffe mit einem kräftigen Ruck aus dessen Rücken zog, fiel der Mann zu Boden, als besäße er kein Knochengerüst mehr. Henri bemerkte, dass der Getötete zerlumpte Kleidung trug, er sah kein Wappen, keine Schärpe, kein Kettenhemd. Handelte es sich um verzweifelte aufständische Bauern?

Henri sprang hinüber, wo er Ferrands Pferd vermutete. In den Resten des Lagerfeuers war das nicht deutlich auszumachen. Überall hetzten Schatten umher, Waffen klirrten.

Als in diesem Moment der Halbmond hinter einer Wolke auftauchte, sah Henri, wie Ferrand mit einem Angreifer rang. Er stürzte hinzu. Es war ihm zuwider, Ferrand zu retten. Aber noch widerlicher fand er es, einen Angreifer aus dem Hinterhalt zu schonen. Es widersprach seiner Vorstellung von Ehre und Moral.

Henri riss den Angreifer von Ferrand herunter und durchbohrte ihn. Ferrand blickte ungläubig zu ihm auf. In seinen Augen, obwohl Henri ihm soeben das Leben gerettet hatte, lag blanker Hass. Henri bot ihm die Hand, damit er aufstehen konnte. Für einen kurzen Moment standen sich die beiden Männer dicht gegenüber. Henri spürte die Körperwärme seines Feindes, spürte seinen Atem. Dann wandte er sich schweigend ab.

Er begriff schnell, dass dies ein Fehler war.

Ferrand kannte keine Ehre und Moral.

Henri spürte, wie ein Schwertknauf gegen seinen Hinterkopf schlug. Ein dumpfer Schlag. Dann stoben Funken durch sein Blickfeld. Einige Augenblicke später überwältigten ihn mehrere Männer und fesselten ihn erneut. Diesmal mit doppelten Fesseln.

»Ich werde dich leben lassen, weil du mir geholfen hast«, schnaubte Ferrand. »Aber versuche nie wieder zu fliehen! Dann töte ich dich!«

»Du weißt, dass ich immer wieder versuchen werde, zu fliehen, Ferrand!«, sagte Henri mit ruhiger Stimme. »Denn der einzige Mann hier in der Runde, der nur in Freiheit existieren kann, das bin ich.«

Der Kampf war zu Ende. Ferrands Schar beklagte sieben Tote. Von den Feinden lag ein gutes Dutzend am Boden. Es schienen tatsächlich Bauern zu sein, die sich auf einem Hungerraubzug befanden und sich an den Durchreisenden bereichern wollten. Vielleicht hätte es genügt, wenn sie um Brot gebeten hätten, dachte Henri, dann lebten die Erschlagenen noch.

Die Männer brachen das Lager sofort ab. Man begrub weder die eigenen noch die fremden Toten und ritt weiter.

Henri schlug ein Kreuz und sprach ein kurzes Gebet, als sie den Ort des Schreckens verließen. Henri wusste, dass die Raubvögel und die wilden Tiere dieser unwirtlichen Gegend schon zu Mittag von den Hingestreckten nicht mehr viel übrig lassen würden. Und er wusste auch, dass die Seelen der Toten kaum in den Himmel aufgenommen werden würden. Aber er betete dennoch für sie. Es waren Menschen. Er erinnerte sich, dass soeben der Monat September begonnen hatte, in dem die Christen die Feste zum Gedächtnis der Schmerzen Marias feierten. Wie schön wäre es gewesen, eines davon mitzufeiern und für die Verstorbenen zu bitten, denn die Gottesmutter war die Schutzpatronin des Tempelordens gewesen. Henri dachte: Nur Gott allein weiß, aus welchen Gründen sie den Pfad des Hasses und der Gemeinheit beschritten hatten.

Henri brach seinen Gedankengang ab. Es war nicht seine Aufgabe, darüber zu richten.

Joshua, Uthman und ihre beiden jungen Begleiter erreichten die Stadt Balaguer am nächsten Tag. Sie waren den Spuren gefolgt und hatten auch die Kampfspuren am Lagerplatz zu lesen gewusst. Da sie unter den Toten Henri nicht sahen, schöpften sie neue Hoffnung. Joshua schlug vor, die Toten miteinander in einem Massengrab zu beerdigen. Aber Uthman lehnte ab.

»Henri ist mir wichtiger als ein Begräbnis dieser Ungläubigen«, sagte er. Er bemühte sich, seiner Stimme einen harten Klang zu geben. Aber Joshua wusste, dass Uthman zwar ein wilder Krieger sein konnte, aber ein weiches, verständnisvolles Herz besaß. Allein die Sorge um Henri ließ ihn so hartherzig reden.

Sie saßen wieder auf. Die Pferde trabten an, und bald waren sie wieder auf der Spur des Gefangenentransportes. Uthman wusste zu deuten, dass die Spuren immer frischer wurden, man kam den Verfolgten also immer näher.

»Noch heute werden wir sie einholen! Wenn sie in Sichtweite sind, ruhen wir ein wenig aus und überlegen den Schlachtplan. Wir greifen in der günstigsten Stunde an.«

Als sie weiterritten, sahen sie in der Ferne ein Dorf, in dem es brannte. Joshua erinnerte sich, dass es in dieser Gegend einige jüdische Gemeinden gab. Brannten hier im Norden Iberiens erneut die Synagogen? Oder hatte sich bei der Hitze nur das Heu der Felder in den Scheuern entzündet?

Uthman ibn Umar lehnte es ab, nach den Gründen zu schauen. Joshua wollte dem Freund widersprechen, sah aber ein, dass er Recht hatte. Er musste sich fügen, denn er sah ein, dass sie jetzt keine Zeit verlieren durften.

Als er sich noch einmal im Sattel umwandte, erblickte er Vogelscharen, die über dem Dorf kreisten und sich dann herabstürzten. Sie fressen kein Heu, dachte er mit Grauen. Und schnell ritt er den Gefährten hinterher.

Am Fluss Segre angekommen, kurz bevor er sich zu einem ausladenden See verdickte, rasteten die Männer. Jetzt hatte Henri vor Augen, wovon er die ganze letzte Zeit geträumt hatte.

Der Fluss schäumte und floss schnell dahin, er bildete Katarakte und stürzte an einer Stelle mindestens fünf Meter in die Tiefe. Am Fuß des Wasserfalls rissen Strudel die Wasser mitsamt herumschwimmenden Baumstämmen, Moosfladen und Sandinseln umso schneller dahin.

Hier werde ich es versuchen, dachte Henri. Noch in dieser Nacht werde ich ein freier Mann sein. Und wenn ich die Fesseln durchbeißen muss!

Vielleicht, dachte er weiter, kann ich mich auch gefesselt in den Fluss werfen. Denn schwimmen kann ich bei der Strömung ohnehin nicht, und die Wasser tragen mich so schnell fort, dass ich nicht untergehen kann. Die Fesseln?

Ich werde sie später abstreifen, wenn ich irgendwo auf die Felsen geworfen worden bin. Dort wird es irgendwo einen spitzen Stein geben.

Wenn ich dann noch am Leben bin, dachte Henri.

Ich muss es einfach riskieren.

Die Nacht kam. Der Mond war aufgegangen, er hatte fast runde Gestalt. Die Wachen wurden wieder einmal eingeteilt. Man kontrollierte den Sitz von Henris Fesseln. Sie schnitten wie jeden Tag in das Fleisch seiner Handgelenke.

Die Männer hatten sich rund um das Feuer zur Ruhe gelegt und schnarchten bald um die Wette. Aus dem umgebenden Wald, der gleich am Ufer des Segre begann, ertönten die üblichen Geräusche der Nachttiere. Ein Schmatzen, ein Grunzen, ein tiefer knurrender Laut, schleifende Geräusche.