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Plötzlich nahm Henri etwas wahr, das er zuerst nicht verstand. Ja, er wusste nicht einmal, ob er es wirklich sah. Jedenfalls gehörte es nicht hierher.

Träumte er?

Es glich der Spitze eines vergoldeten Kirchturms, die zu kreisen begonnen hatte. Etwas stieg aus dem Walddunkel empor und blinkte wie Gold im Mondlicht. Es schien aus sich selbst heraus zu leuchten. Es stand nicht still. Es bewegte sich ständig.

Jetzt begriff er.

7 

Im Jahr des Herrn 1312, Heiliges Land

Kaum hatte Henri Uthman nach ihrer Überquerung des Meeres in Cordoba verlassen, da traf er auf Flüchtlinge aus Frankreich, die ihm erzählten, dass die Verfolgung der Tempelritter nach wie vor wie eine Seuche im Land wütete. »Besonders den Schatzmeister suchen sie«, erzählten die Männer, »auf seinen Kopf ist viel Geld ausgesetzt.«

Henri war müde, und die Welt schien ihm grau und leer. Warum nach Frankreich hasten, wo ihn Folter und Tod erwarteten? Wo er vermutlich nichts für seine gefangenen Tempelbrüder tun konnte? In seiner erschöpften Weltverdrossenheit erinnerte sich Henri an eine Legende, die ihm in seiner Ausweglosigkeit wie ein strahlendes Licht erschien: Wäre es nicht schön, nach all den Gemetzeln im Heiligen Land, der Verfolgung, dem Hass, dem nicht endenden Schmerz in ein friedliches Reich abzutauchen? Henri hatte von dem legendären Priesterkönig Johannes gehört, der in Äthiopien ein riesiges Reich regierte. Niemand hatte ihn jemals zu Gesicht bekommen. Umso geheimnisumwobener war dieser Herrscher – ein mächtiger Christ inmitten vom sarazenischen und heidnischen Königreichen. Dort wollte er hin, dort wollte er Frieden finden, eine Ruhe, die nicht die Ruhe des Schlafes oder die des Todes war, sondern die der Stille der Zufriedenheit.

Es brauchte nicht lange, da hatte er nach Cordoba zurückgefunden und mit Uthman gesprochen. Uthman war begeistert, denn in Äthiopien hatten die ersten Anhänger des Propheten, die vor der Verfolgung in Mekka flüchten mussten, bei dem christlichen Kaiser Aufnahme und Schutz gefunden. Dieses Land hatte er schon immer sehen wollen.

»Die nun geglaubt haben und ausgewandert sind und gestritten haben für Allahs Sache, und jene, die ihnen Herberge und Hilfe gaben – diese sind in der Tat wahre Gläubige. Ihnen wird Vergebung und eine ehrenvolle Versorgung sein!«

Henri lauschte aufmerksam den Worten des Gelehrten, der den vierundsiebzigsten Vers, oder, wie die Sarazenen sagten, das vierundsiebzigste Zeichen, der Sure von der Verderblichkeit des Krieges, der Sure Al-Anfal, aus dem Koran mit lauter und tragender Stimme vorlas. Er wusste, diese Worte bezogen sich auf die in Mekka bedrohten Freunde des Propheten, die in das christliche Königreich Äthiopien ausgewandert waren, wo sie Gastfreundschaft genossen. Dort, dachte Henri, halfen Christen den Anhängern Muhammads, und der Koran verbietet allen Sarazenen, sie zu bekämpfen. In unseren eigenen christlichen Ländern gibt es ein solches Gebot nicht. Zwar sagt unser Heiland Jesus Christus, wir sollen unsere Feinde lieben, aber die Kirche in unseren Ländern verfolgt sie mit Feuer und Schwert.

Nur wenige Wochen später befanden sich Henri und Uthman bereits wieder in Aleppo. Der Tempelritter beriet sich nach dem Besuch der Moschee mit Uthman ibn Umar und dem Tempelritter Jacques de Charleroi über die Reise.

»Äthiopien? Ein unzugängliches Land. Was soll uns eine Reise dorthin bringen?«

Henri sah Uthman nachdenklich an. »Für mich wäre es wie eine Wallfahrt, auf der ich die Schrecken hier und in der Heimat vergessen könnte. Für dich wäre es eine lehrreiche Reise zu dem einzigen friedlichen christlichen Herrscher, den es jemals gab – eine Art Anschauungsunterricht, damit du deinen Hass bezähmen kannst, und eine Fahrt zu den Ursprüngen deines Glaubens. Für Jacques…?«

Das gebräunte, kantige Gesicht des Tempelritters aus Lothringen, in dem zarter Bartflaum stand, obwohl er schon zweiunddreißig Jahre alt war, bekam einen ratlosen Ausdruck. »Es geht mir wie Uthman. Mir kommt Äthiopien eher wie ein Land aus Tausendundeiner Nacht vor. Aber zugegeben, nach all den Gräueln in Aleppo und der gewalttätigen Gefangenenbefreiung würde auch ich gern ein friedliches christliches Land sehen.«

Worauf Jacques anspielte, stand Henri noch deutlich vor Augen. Sie hatten sich vor kaum zwei Wochen kennen gelernt, als sie gemeinsam in einer tollkühnen Aktion gefangene Christen aus einem feuchten sarazenischen Kerker am Ufer des Quwaya befreiten. Viele waren dabei gestorben, aber die Rettung der Übrigen war dank ihrer Tatkraft und ihres Todesmutes gelungen. Jetzt waren die Kaufleute und ihre Familien in Sicherheit außer Landes. Auch Uthman hatte dazu beigetragen. Er konnte zwar nicht gegen seine muslimischen Brüder kämpfen, aber doch einen Weg aus dem Kerker auskundschaften, um unschuldige Menschenleben zu retten. Dazu fühlte er sich seinem Gott und Henri gegenüber verpflichtet.

»Lasst uns also reisen«, sagte Henri de Roslin. »In Aleppo sind wir jetzt nicht mehr sicher, auch wenn Uthman für uns bürgt. Und – Reisen bildet, wie ihr wisst.«

»Das ist ein Spruch, den Christen viel zu wenig ernst nehmen«, meinte Uthman. »Für die meisten deiner Religionsgenossen, mein Freund, sind andere Länder immer Feindesländer gewesen, in denen man mit dem Schwert aufräumte.«

»Nun, ihr Sarazenen seid auch keine Engel gewesen«, erwiderte Henri. »Als die streitenden Thronanwärter die Almohaden und Almoraviden aus Marokko und Algerien nach Iberien riefen, haben diese erbarmungslos unter den christlichen Westgoten gewütet.«

Jacques warf ein: »Solange wir kein gemeinsames Menschenbild besitzen und an Götter glauben, die neben sich keine anderen dulden, wird auf allen Seiten Unrecht verübt. Wie könnte es anders sein?«

In Uthman schien der Tatendrang zu wachsen. »Du meinst also, dieser ominöse Priesterkönig Johannes wird uns freudig empfangen wie meine Glaubensbrüder vor vielen Jahrhunderten?«

»Ich hoffe es. Man hört viel darüber. Jedenfalls soll er unermesslich reich sein und von goldenen Tafeln essen. Und in seinem Land gilt wahrer Glauben mehr als Macht. Aber ich will nicht beschwören, dass es wirklich so ist. Jedenfalls suchte man bisher vergebens nach ihm. Schon beim dritten Kreuzzug im Jahr des Herrn 1199 machte sich eine Abordnung des Papstes und des römischen Kaisers Friedrich, den man Barbarossa nannte, auf den Weg, um ihn zu finden. Er hatte ihnen einen Brief geschrieben, den auch ich in der Tempelschule gründlich studiert habe. Von dieser Expedition hörte man allerdings nie wieder etwas.«

»Das ist mir bekannt«, sagte Jacques nachdenklich. »Dieser Brief erschütterte damals die ganze Christenheit, ein regelrechtes Fieber nach diesem geheimnisvollen Herrscher brach aus. Waren auf der Expedition nicht auch iberische Santiago-Ritter aus Aranjuez dabei?«

»Ja. Seltsam, nicht wahr? Was wollten sie wohl in Äthiopien?«

»Nun«, sagte Uthman. »Für jeden mächtigen Christen muss es sehr interessant sein, wenn es einen christlichen Herrscher jenseits des muslimischen Machtbereichs gibt.

Mit ihm als Verbündeten kann man die rechtgläubige Welt in die Zange nehmen.«

»Das versuchten sie wohl herauszufinden. Aber alle starben dabei.«

»Vielleicht war dieser Priesterkönig Johannes doch nicht so friedlich? Und seine Nachfolger heute? Vielleicht sind sie es noch weniger?«

»Ich hätte Lust, es herauszufinden«, sagte Henri. »Wenn es diesen Priesterkönig tatsächlich gibt, dann hätten wir einen Verbündeten und könnten dafür sorgen, dass die unterschiedlichen Religionen und Kulturen näher zusammenrücken. Ich meine – wir könnten voneinander lernen! Wäre das nicht wunderbar? Eine Welt, die durch die Erfahrungen aller immer reicher und gebildeter wird und sich nicht mehr bekämpft?«