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»Könnt ihr uns zum Priesterkönig führen?«, wollte Henri wissen.

Die Führer deuteten voraus. Hinter der Kirche erhob sich ein Turm, aus Stein gebaut, der langsam verwitterte. Henri traute seinen Augen nicht. In dem zur See hin offenen Turm saß ein Mann. Er sprach nicht. Er rührte sich nicht.

»Wenn das der Priesterkönig sein soll«, sagte Uthman, »dann herrscht er über ein sehr armes Reich.«

»Es ist ein Mönch, der alle Weisheit kennt«, erklärte ein Führer. »Er hat seinem Gott gelobt, unbeweglich bis zu seinem Tod sitzen zu bleiben.«

Henri blickte fasziniert auf den lebendigen Heiligen, dessen Silhouette sich vor den dicht über ihn dahintreibenden Wolken abzeichnete. Nein, das war nicht der Priesterkönig. Er kannte solche Asketen aus den kastilischen Klöstern.

Die Mönche, die sie empfangen hatten, führten die Besucher nun in einen ovalen Tempel. Hier breiteten sich Regale mit weißen Totenschädeln aus. An den Wänden hingen gerahmte Heiligenbilder von großem künstlerischen Reichtum. Im Halbdunkel sahen die Ankömmlinge sechs mächtige Särge. Als die Mönche, die dort warteten, bestickte Sargtücher zur Seite zogen, erblickten sie knochendünne, eingeschrumpfte Mumien mit runzligen Armen, über der Brust gefalteten Händen und bleckendem Grinsen, das ihre Zahnreihen freilegte.

»Es sind unsere alten Kaiser«, erklärte ein Mönch ehrfurchtsvoll unter ständigem Kreuzeschlagen. »Sie kamen einst als Leichen über den stürmischen Asmarasee, hier bleiben sie bis zum Ende der Zeit.«

Direkt neben dem Tempel sickerte in einem blauen Streifen neben Papyrusstängeln eine Quelle hervor, sie weitete sich zu einem kleinen blauen Fluss, der im dichten Schilf verschwand. »Eine heilige Quelle«, beschrieb ein Führer mit respektvoller Stimme den Bach. »Sie wird zum Fluss, der unter dem Asmarasee hindurchtaucht und jenseits davon als längster Fluss der Welt bis zum Rand der Erdenscheibe weiterfließt.«

Henri dachte, dies müsse die geheimnisvolle Quelle des Blauen Nils sein. Er verspürte den heftigen Wunsch, seinen Wissensdurst zu stillen und den Priesterkönig endlich zu sehen. Diese Inselwelt mit ihren würzigen Gerüchen, ihren üppigen Farben und Formen, ihrer eigenartigen, friedvollen Stimmung übte einen tiefen Zauber auf ihn aus.

Hinter der Ansiedlung der Bettelmönche und einem dichten Wald, der die weitere Insel verbarg, stieg das Gelände unvermutet weiter an. Jetzt öffneten sich im Wind wogende Felder und grüne Höhenzüge, in einer Art Parklandschaft standen uralte riesige Bäume. Als sie weitergingen, entdeckten sie Felsen, die bearbeitet erschienen, dann erkannten sie eine Burgruine, überwachsen mit Schlingpflanzen und Kakteen, bunte Sumpfvögel schwirrten herum, langschwänzige Affen kletterten an Lianen. Aus dem Inneren der umliegenden Täler heraus dampften warme Quellen.

Zu Füßen der bizarren Burg brannten überall offene Feuer. »Sie feiern morgen ihr Maskaifest zur Entdeckung des wahren Kreuzes!«, erklärte ein Führer. »Dann wird auch das Oberhaupt erwartet.«

»Der Priesterkönig!«, entfuhr es Uthman.

»Es ist der Hochbetagte«, sagte der Mönch schlicht.

»Dürfen wir daran teilnehmen?« Henri verspürte, wie seine Unruhe immer stärker wurde.

»Ganz ausgeschlossen. Ihr müsst vor Einbruch der Nacht wieder zurückfahren. Denn nachts sind die Flusspferde im See lebensgefährlich. Es treiben sich auch shiftas, üble Piraten, herum. Und übernachten dürfen auf dieser heiligen Insel keine Fremden.«

»Aber wenn ihr Oberhaupt der Priesterkönig ist, dann müssen wir ihn treffen. Wir waren lange unterwegs – könnt ihr Leute euch das überhaupt vorstellen?«

»Es ist der Hochbetagte«, wiederholte der Mönch nur, »manche sagen, er sei nicht wirklich.«

Uthman deutete auf einen schnell herantretenden Mann. Er war spindeldürr und lang wie eine Hellebarde, ein spitzer Bart zierte sein spitzes Kinn. »Folgt mir!«, befahl er barsch.

Im Gänsemarsch ging es einen von Papyrus, wildem Kaffee und Feigenbäumen gesäumten Pfad entlang zum höchsten Gipfel der Insel. Bald waren die Männer in der dünnen Höhenluft, die hier herrschte, erschöpft. Oben angekommen, öffnete sich ein prachtvoller Ausblick über den ganzen See und die Farbtupfer darin, sämtlich Klosterinseln. Ein terrassenförmiges Dorf zog die Besucher in ihren Bann, es war gekrönt von einer blau angemalten Hütte, die ein goldenes Koptenkreuz in einer Rosette mit sieben Spitzen aus Straußeneischalen trug.

»Debra Mariam, das neue Kloster des Oberpriesters!«, sagte einer der Mönche, und ihr Führer übersetzte das für die Fremden.

»Diese Hundehütte da?« Ungläubig deutete Uthman in die Höhe.

»Kommt!«

Sie erklommen die letzten dreihundert Ellen. Ein Junge mit zerfressenen Lippen öffnete ihnen die Tür. Der Raum, in den sie traten, war wie in einem Irrgarten dreigeteilt. Und jeder der drei quadratischen Gänge, begrenzt von weiß gestrichenen Lehmwänden, von denen mit übergroßen Augen starre Heilige auf die Fremden schauten, war leer – bis auf eine Art Altar, einen flachen Tisch in der Mitte.

»Geht hinein, es ist magdas, das Allerheiligste!«, forderte sie der Junge auf. »Mehr können wir Fremden nicht zeigen.«

Die Gefährten traten in die Hütte. Im Zentrum lagen auf dem Tisch dicke handgeschriebene Bücher, rotbraun und schwarz bemalt, Pergamente, vergilbte Manuskripte. Henri zog eines der gut zwei Fuß hohen Bücher zu sich heran, es war in präpariertes Ziegenleder gebunden, prachtvolle Zeichnungen zeigten würdevolle, betende oder reisende Gestalten, Kirchenfürsten mit goldgemalten Umhängen. Die roten Schriftzeichen waren unverständlich, Uthman murmelte aber: »Althebräisch, das liturgische Ge’ez, das schon der Prophet Musa, euer Moses, gesprochen hat und später die Herrscher von Axum, mehr als dreitausend Jahre alt…«

Henri widersprach. »Das ist kaum vorstellbar, solange hält sich kein Buch in diesem Klima.«

»Ich meine die Schrift. Niemand schreibt heute so, nicht einmal die jüdischen Kalligraphen Iberiens können es.«

»Wer hat diese Bücher geschrieben?«

»Vermutlich äthiopische Debtera, Priestergelehrte.«

Fasziniert blätterten die Freunde in den Büchern. »Was sind das für Bilder, was zeigen sie?« Henri war auf Uthmans Erklärungen angewiesen. Der Sarazene beugte sich tief über die in allen Farben leuchtenden Abbildungen.

»Die Geschichte vom Propheten und König Suleiman und der Königin von Saba. Du weißt, dieser Vereinigung soll der Gründer des Axumreiches, Menelik II. der Vater Äthiopiens, entstammen.«

»Die biblische Geschichte vom Treffen der beiden mächtigen Herrscher vor 3000 Jahren in Jerusalem?«

»Es ist mehr als eine Geschichte, es ist im Koran und in den Geschichtsbüchern erwiesen. Nach dem Untergang des salomonischen Königtums wurde Menelik der Löwe von Juda. Seitdem nannten sich alle äthiopischen Kaiser Löwen aus dem Stamme Judas. Und ein wahrer Löwe war er, denn er bot den Vertriebenen aus Mekka Zuflucht. Der gekrönte Löwe versinnbildlicht die Kaiser selbst, ihr Titel sagt es aus, und das goldene Kreuz auf ihrem Kopf zeigt, dass die Rechtgläubigen den Christen in Äthiopien nichts taten, trotz der Ausbreitung des wahren Glaubens auch in diesem Gebiet, und zwar schon vor 500 Jahren.«

»Ich weiß – Menelik soll die Bundeslade, nach der unsere Tempelgründer, wie es heißt, sieben Jahre lang suchten, aus dem Tempel von Jerusalem hierher in sein neues, äthiopisches Reich, auf die Klosterinsel Tana Cherkos, gebracht haben.«

»Auf diesen Bildern sind auch Inselklöster zu sehen. Es könnten dieselben sein, auf denen wir uns gerade befinden.«

»Du meinst, die Bundeslade mit den Gesetzestafeln Moses’, der größte Schatz der Christenheit, wurde hier aufgehoben?«

Uthman zuckte die Schultern.

Gebannt starrte Henri auf die Schrift und auf die Bilder, in denen die Rätsel einer mehr als dreitausend Jahre alten Geschichte gebannt waren. Und als er aufsah, erblickte er in diesem Moment draußen vor der Tür eine Prozession, die über die Insel zog. Er stieß Uthman an, und auch dieser schien es zu sehen.