Sie sahen nun, dass das weiße Geflatter über der Stadt zitternde Bänder waren, die an Stricken gebunden auf halber Berghöhe rings um die Stadt gespannt waren. Sie sollten die Schwärme von Raubvögeln abhalten, die zu dieser Jahreszeit über die Stadt herfielen, alles fraßen und sogar Menschen angriffen. Die Gefährten hörten den Klang kleiner Glocken, die an den Stricken aufgehängt waren und sich im Wind bewegten.
Als hätten diese weißen Bänder weiße Wesen hervorgebracht, kam ihnen, während sie hinaufstiegen, unvermittelt ein Zug weiß gekleideter Priester entgegen. Sie trugen lange, dünne Taststöcke.
»Haltet euch von den blinden Priestern fern!«, warnte sie ein junger Einheimischer beim Näherkommen. »Sie betteln, dann erschlagen sie ihre Gönner. Sie sind unberechenbar. Einige können Wunder vollbringen, und sie wiegeln das Volk auf. Sie leben nur von Kräutern, die sie auf den Spitzen ihrer Berge essen, und man sagt, sie hielten in ihren Einsiedeleien, die unheimliche, von weißem Kot bedeckte Orte sind, junge Frauen gefangen, die ihnen zu Willen sein müssen.«
»Weißer Kot?«, fragte Uthman. »Aber es sind Priester, keine Vögel.«
»Es sind Vögel«, beharrte der Einheimische. »Sie kommen und gehen, fliegen und bleiben. Sie können davonflattern.«
»Es sind Weißlinge!«, sagte Uthman überrascht zu Henri. »Menschen, deren Haut sich nie bräunt. Und sie sprechen anscheinend die Sprache der ägyptischen Küste, ein unverfälschtes Arabisch aus den Schriften!«
»Sie müssen den Priesterkönig kennen«, meinte Henri. »Frag sie danach, Uthman.«
Die schlurfenden Priester hörten die Frage und sahen Uthman und Henri aus blinden Augen entgegen. Die Gefährten hatten jedoch den Eindruck, sie sähen die Fremden mit anderen Sinnen. Sie schnüffelten und tasteten, verzogen die Gesichter zu schiefen Grimassen. Dann verständigten sie sich schreiend untereinander und zogen vorbei, ohne auf die Frage geantwortet zu haben.
Und auch Henri und Uthman zogen weiter, um in die Stadt mit dem vorherrschenden zweistöckigen Bau des königlichen Palastes mit goldbesetzten Kuppeltürmen, hohen Eingangsportalen, massiven Steintreppen und zinnenbewehrten, dicken Mauern zu gelangen.
Wanzeybäume, die den Eindruck eines schwarzen Waldes machten, verdeckten die anderen Häuser. An den Straßenrändern standen dunkelhäutige Menschen neben Löwenkäfigen, in denen die Raubtiere brüllend gegen Gitter sprangen. Es gab aber auch friedliche Bilder. Inmitten eines ausgedehnten Sees mit Kaskaden befand sich ein Wasserschloss, vor dem Leiermusikanten auf ihren Instrumenten spielten. Fasanen, Pfauen und Papageien ergänzten das farbige Bild.
War dies die Hauptstadt? Die Einwohner nickten und lachten. Wahrscheinlich verstanden sie die Frage nicht.
Es schien Markttag zu sein. Kakaobraune Frauen hockten mit angezogenen Knien im Straßenstaub und verkauften schwarze Terrakottafiguren und Gefäße. Henri sah, dass viele Männer Gebetsriemen an den Armen und auf der Stirn trugen, er sah fransenhaft-bärtige Männer mit Ohrlocken unter schwarzen Hüten, die aus Papierrollen vorlasen.
»Jüdische Falascha«, erklärte Uthman. »Sie leben auch weiter nördlich an der Küste.«
»Wer ist der Herrscher dieser Stadt?«, fragte Henri immer wieder.
Ein älterer Jude, der gerade mit seinen tefilin heilige Buchstaben aus dem heiligen Buch, der Thora, geformt hatte, gab ihm zur Antwort: »Der Herrscher ist Negadé Haimamot der Erste.«
»Ist er der Priesterkönig Johannes?«
Der Jude blickte Henri verständnislos an. »Ihr könnt ihn nicht aufsuchen. Denn alle Nichtjuden leiden unter der Schlafkrankheit, auch der Herrscher. Sie liegen schon auf den Stufen der Freitreppe, bewegungslos und verkrümmt, sie sind von der Fliege gestochen worden. Auch Hellhäutige wie Ihr sind davon betroffen.«
»Dann lass uns weiterziehen«, schlug Henri Uthman vor. »Wo es statt dem Priesterkönig nur Schlafkranke gibt, werde ich kaum eine geistige Erfahrung machen können.«
Es war ein guter Entschluss.
Denn beim Weiterreiten durch immer üppiger werdende Täler stießen sie auf Landschaften, die Henri an die Schilderungen des biblischen Paradieses gemahnten. Sykomoren mit einer Spannweite von vier Metern ließen den Eindruck von riesigen Städten entstehen, die von der Natur in wogendem, duftendem Grün gebaut worden waren. Überall roch es plötzlich nach Blüten, bunte Vögel, vor allem Papageien, Glanzstare und Wolamoreiher, beobachteten sie von Feigenbäumen herab.
»Wenn wir ihn hier nicht finden, dann kehren wir um«, meinte Henri. »Denn sonst müssen wir in ganz Afrika suchen.«
Am nächsten Morgen lag ein atemberaubendes Panorama vor ihnen. Eine grüne Ebene, vom Rand eines blauen Sees gekrönt, erstreckte sich vor ihren Augen. Das ganze Land schien eine einzige einladende Geste des Willkommens auszuführen. Der sanfte Wind wogte in Gräsern und Palmen, so als tanze die Landschaft. Beim Hinabreiten säumten Zwergaffenbrotbäume und wilde Olivenbäume ihren Weg. Und am Rand des Hochplateaus dufteten blaue Blumenteppiche, zwischen Basaltblöcken sprudelten Bäche, und die Sonne erfüllte die Gefährten mit Zustimmung für das Leben.
»Das Paradies, meinst du nicht?«, rief Henri begeistert.
»Ohne Zweifel«, meinte Uthman, den Henri zum ersten Mal seit langer Zeit lächeln sah.
Sie waren froh, eine Stadt zu erreichen, in der sie Wasser kaufen konnten. Sie hatten ihre Lederbeutel zwar gut gefüllt, aber in der Hitze verdunstete das Trinkwasser schneller als erwartet. Die Stadt in der Ebene war heiß. Sie tranken an einer Quelle und aßen hauchdünn filetierte Fleischstücke von einer Feuerstelle, die ein Falascha betrieb. Sie erfuhren, dass am See Bodi, Surma, Hamar, Bumé und Mursi lebten, die an Zauberer glaubten.
»Ihre Medizinmänner werden euch Weiße töten, wenn ihr ihnen in die Quere kommt!«, erklärte der Falascha.
»Das Paradies?«, meinte Uthman ironisch zu Henri.
Als sie in die Stadt am Seeufer einritten, machte Uthman plötzlich ein Zeichen. Sie hielten. Uthman lauschte Rufen. »Hörst du das, Henri? Sie rufen: Mein König, lass mir Gerechtigkeit widerfahren!«
»Ja und?«
»Das ist die Bedeutung ihrer amharischen Rufe, mein Freund. Aber hörst du, wie das klingt, wenn man diese Bedeutung weglässt, wenn man nur dem Klang lauscht?«
Henri hörte genau zu. Und allmählich verstand er, was Uthman meinte. Die Rufe wurden lauter, die Stimmen klagten: »Prête O Ian Hoi! – Prête O Ian Hoi!« Und je länger er hinhörte, desto mehr nahm dieser Satz einen anderen Klang an: »Prête I Annis! – Prête I Annis!«
Henri stieß verblüfft hervor: »Prête Ionnis, Priester Johannes!«
»Genau. Prête I Annis, Priester Johannes, so nennen sie den König der Könige, und es gibt keine andere Ableitung für diesen Namen als ihren ständigen Ruf, der heißt: Mein König, lass mir Gerechtigkeit widerfahren.«
»Du meinst, wir haben den Priesterkönig hier gefunden?«
»Ich glaube eher, sie nennen jeden ihrer Könige der Könige, jeden Negusa Nagast, so.«
»Lass uns näher heranreiten. Vielleicht erfahren wir etwas. Frage auch nach der Expedition aus dem Abendland, die hier verschollen ist.«
Uthman erfuhr, dass die Stadt Lalibela hieß. Für die einheimischen amharischen Stämme galt es als Jerusalem. Dann muss es die Hauptstadt sein, dachte Henri. Über die verschollene Expedition wusste niemand etwas.
Man feierte gerade das Timkatfest und vollzog symbolische Taufhandlungen, mit denen Kinder unsterblich gemacht werden sollten. Henri und Uthman beschlossen, hier zu verweilen.