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Schon nach einem Tag in dieser Stadt lernten die Gefährten etwas Eigenartiges kennen. Es war ein Schwebezustand im Zusammenleben von Menschen, der von niemandem diktiert zu werden schien. Es gab keine Krieger und Aufpasser, keine geschriebenen Gesetze, keinen Besitz und kein Geld. Und dennoch glitt das Leben in Lalibela dahin wie ein Nachen über einen grünen Teich mit duftenden Seerosen.

Die hier lebenden Christen sprachen Aramäisch, so konnte sich Henri verständigen. Man riet ihnen, zu der Felsenkirche des alten Königs Neak Wato Leab zu gehen. Dort würden sie auf alle Fragen Antworten erhalten.

Und während die Schatten weiterwanderten, machten sich Henri und Uthman auf die Suche nach dieser Kirche.

Sie brauchten nur dem Strom der Menschen zu folgen und standen bald vor der in einem Erdgraben versenkten Kirche Bjet Giorgis, die aus mehreren Monolithen bestand.

Davor saßen Wandermönche aus Jordanien, sie waren in schmutziges Sackleinen gekleidet, predigten jeder in seinem eigenen Dialekt, aber mit der gleichen erhobenen Stimme vor einer unsichtbaren Zuschauermenge. Ihre Hirtenstöcke klapperten auf den Felsen. Die über mehrere Stockwerke aufragende Kirche war umgeben von einem Irrgarten aus Laufgräben mit Holzbrücken, sie trug auf dem Dach drei ineinander liegende Kreuze, tief unten umspielten Schatten den Sockel. Der Grund der Kirche lag in Dunkelheit. Da sie von der Sonne beschienen und herausgehoben wurde, wirkte es auf Henri und Uthman, als schwebe sie über dem Erdboden.

Auch Uthman wollte die Kirche von innen sehen. Sie folgten den Bettelmönchen.

Drinnen war es kalt und dunkel, es roch nach Moder und Weihrauch. Nur durch die halb ovalen, filigranen Obergadenfenster fielen gebündelte Sonnenstrahlen ein und lagen wie Zeigefinger auf goldenen Kostbarkeiten. Dies war also die Kirche der Antworten, eine der Wohnungen des Herrn, halb Kathedrale, halb Moschee, halb Felsen, halb Bauwerk. An einem Ort erbaut, an dem sich vor Jahrhunderten die ersten Christen gegen die Heiden verteidigt hatten.

Henri schien sie ein Ort für Betende jedes Glaubens zu sein, und er erblickte auch überall Menschen unterschiedlicher Stämme und Rassen. Kniende, sich vor- und zurückbeugende, flehende, sich versenkende, mit der Stirn die Bodenteppiche berührende, Kreuze schlagende Menschen aller Nationen.

»Wenn es den Priesterkönig gibt, wohnt er in einer solchen Kirche, die für jeden und jede Religion da ist«, flüsterte Henri.

Uthman nickte nur stumm.

In diesem Moment verschwand der Zug der murmelnden und singenden Predigermönche in der Tiefe der Halle, dorthin, wo das Felseninnere sich öffnete. Aus der Richtung des Altars kam ein Licht. Als Henri und Uthman näher gingen, lag dort ein phosphoreszierender Stein. Er leuchtete aus seinem Inneren heraus. Davor knieten betende Gläubige. Henri bekreuzigte sich unwillkürlich, Uthman schaute nur beeindruckt, mit schief gelegtem Kopf. Beide hatten sich den Turban abgerissen.

Henri bekam den Eindruck, die Gläubigen verschwänden in der Erde, so als bewegten sie sich auf eine geheimnisvolle Kraftquelle zu, die ihnen aus dem Inneren entgegenkam. Der Stein leuchtete wie ein ewig strahlender Impuls. Wie…

Henri wagte das Wort nicht zu denken.

Uthman sagte an seiner Stelle: »Vielleicht meinen sie diesen Stein mit dem Priesterkönig. Oder es ist sein Geist. Er ähnelt all den Steinen auf der Klosterinsel, nur ist er hundertmal kraftvoller.«

Henri sagte betont nüchtern: »Es ist vermutlich nichts weiter als ein Felskristall, in dessen Inneren ein Sardin strahlt. Ich erinnere mich, dass in dem Schriftstück, das der Papst von diesem Priesterkönig erhielt, etwas von einem solchen Sardin stand.«

»Erzähle davon.«

»Nun, die größten Pforten des Johannes-Palastes, so schrieb der Absender, wenn ich mich recht erinnere, seien aus Sardin. Dieser Stein kann auch Blutfluss stillen und nimmt dem Onyx seinen schädlichen Einfluss. Seine Farbe ist rot, sein Name soll von seinem ersten Fundort Sardes in Lydien abgeleitet sein. Gegen Gift ist der Sardin zusätzlich mit dem Horn der Hornschlange vermischt, kommen vergiftete Speisen auf den Tisch, verfärbt sich das Horn…«

»Du kennst dich aus.«

»Die Kabbalisten lieben Buchstabenspiele und Spiele mit Zahlen. Ich erinnere mich, dass für die christlichen Kabbalisten der Sardin der 6. Stein in der Reihenfolge der Apokalypse ist und im 6. Weltalter Christus seine Marter erlitt.«

»Ein solcher Stein«, sagte Uthman, »in dem sich Wünsche vereinen oder erfüllen, wäre doch ein gemeinsames Andenken von dieser Reise. Eine Art Priesterkönig, den wir immer mit uns herumtragen könnten! Ein Zeichen, das uns immer verbände!«

»Wir reisen noch einmal auf die Klosterinsel zurück und nehmen jeder einen mit!«, antwortete Henri.

Jetzt fielen ihnen die Gestalten auf, die ringsum an den schmucklosen braunen Wänden aus gebranntem Lehm saßen. Es waren halb nackte Einsiedler, die meditierend vor Grabnischen hockten. Wie lange mochten sie dort schon sitzen? Sie schienen bereits die Farbe ihrer Umgebung angenommen zu haben. Nur der Schein des leuchtenden Sardin, vor dem Henri noch immer kniete, erfasste sie. Henri dachte: Das Leben draußen bedeutet ihnen nichts. Sie sind geboren worden und werden sterben in unmittelbarer Nähe zu ihrem Schöpfer. Ist das der wirkliche Glaube? Und ist das nicht die Botschaft, nach der ich selbst lange suchte? Nämlich dass es gleich ist, wo auf der Erdenscheibe man lebt und was man besitzt, wenn man nur mit sich und mit seinem Schöpfer im Reinen ist?

Es ist schließlich gleich, ob wir den Priesterkönig Johannes gefunden haben, um mit der Kunde von seiner Existenz in das christliche Abendland zurückzukehren. Ich spüre hier, an diesem Ort, die Klarheit meiner Wünsche. Und ich denke klar: Wir nehmen zwei leuchtende Sardine mit nach Hause, die Uthman und mich verbinden. Wenn wir jemals wieder in Gefahr geraten, werden sie uns als Zeichen gelten. Wir werden uns beistehen.

Diese Botschaft bedeutet mir mehr, als den Priesterkönig gefunden zu haben. Und habe ich nicht insgeheim nach ihr, und nicht nach einem solchen König, gesucht?

Während Henri so mit sich sprach und seine Gedanken durch den Zauber des Ortes leichter flossen, verging die Zeit langsamer und behutsamer. Und leise und unaufhörlich rieselte feiner Sand von den Wänden der Kirche auf den Boden.

Zufrieden stand Henri auf, legte Uthman, der ihn lächelnd ansah, den Arm um die Schulter und ging mit ihm hinaus in die Sonne.

Die Welt hatte sie wieder.

8 

September 1315, Monat Maria Schmerzen

Wenn Uthman in der Nähe war, dann konnte das Zeichen nur bedeuten, dass er Henris Befreiung versuchen würde. Henri war alarmiert. Er blickte sich verstohlen nach den Wächtern um. Zur anderen Seite sah er einen Bewaffneten zwischen den Bäumen entlanggehen. Hatte er Uthmans Zeichen, den leuchtenden äthiopischen Stein, der Sardin hieß, umschlossen von der hoch gereckten Hand, im Mondlicht gesehen? Der Wächter setzte seinen Weg jedoch fort und verschwand, ohne sich umzudrehen, im Walddunkel.

Henri versuchte, sich aufzurichten. Er lag ungünstig am Wagenrad, die Sparren drückten in seinen Nacken. Aber wenn es ihm gelang, die Fußfesseln zu lösen, dann konnte er in Richtung Uthman laufen, der am anderen Ufer des Flusses Segre stehen musste. Er würde sich in den reißenden Strudel werfen in der Hoffnung, dass der Sarazene zur Stelle war und ihn herausfischte.

Henri begann sofort mit der Arbeit. Schon hatte er sich in eine senkrechte Position gebracht. Er sah hinüber zum Fluss. Das Zeichen war verschwunden. Im flackernden Rauch der ausgehenden Lagerfeuer, den eine leichte Brise zerzauste, sah er die Schläfer, sie bewegten sich unruhig auf ihrer harten Lagerstatt, als ahnten sie etwas. Aber niemand erwachte.