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Jetzt konnte Henri de Roslin sitzen. Langsam, Stück für Stück, um kein Geräusch zu verursachen, zog er die Beine an. Als sie angewinkelt waren, schaffte er es, sich so weit vorzubeugen, dass sein Mund die Stricke berührte. Sein Körper schmerzte dabei, Muskeln und Sehnen streckten sich bis zum Zerreißen. Aber er reichte dennoch nicht heran. Es fehlten ein paar Zentimeter.

Henri verschnaufte, er versuchte, seinen strapazierten Körper mit den angespannten Muskeln zu lockern, dann probierte er es noch einmal. Es dauerte lange, bis seine Zähne an den Stricken nagen konnten. Henri verbiss sich mit aller Kraft in die Fesseln. Es war mühselig, und er atmete schwer. Bald schmeckte Henri Blut im Mund, aber er gab nicht auf. Faser für Faser zerriss unter seinem kräftigen Gebiss. Es gab jedes Mal ein leises, platzendes Geräusch, zu leise, um von den Wächtern gehört zu werden.

Henri machte dennoch mehrere Pausen. Wenn sie ihn bei seiner Tätigkeit sahen, würden sie ihn bewusstlos schlagen – und die Fesseln verdoppeln. Dann war auch Uthman machtlos.

Es sei denn, Uthman war nicht allein.

War Joshua, der ihn aus Cordoba herbeigeholt haben musste, bei ihm? Oder andere Männer? Henri konnte die bangen Fragen nicht beantworten.

Dann sah er das Zeichen wieder. Einen kreisenden, aus sich heraus leuchtenden Stein im Mondlicht. Nur ganz kurz. Henri biss die letzten Fasern des Strickes durch. Er spuckte Blut und Hanffetzen. Die Knöchel schmerzten, die Haut war dort, wo die Stricke tief eingeschnitten hatten, aufgescheuert. Henri bewegte die Beine ein paar Mal, um das Blut besser zirkulieren zu lassen. Dann machte er sich zum Aufspringen bereit. Er blieb noch einen Moment sitzen, beobachtete die Schläfer und wusste, dass der Wächter, der den Lagerplatz einmal ganz umrundete, erst wieder in einiger Zeit auftauchen würde. Er erhob sich geschmeidig, blieb geduckt stehen – und rannte los.

Als er den Fluss schon vor sich sah, hörte er hinter sich Geschrei. Sie hatten seine Flucht bemerkt.

Henri lief um sein Leben. Hinter ihm brachen Äste und Zweige. Die Horde versuchte, ihn einzuholen. Von Uthman sah er nichts mehr. Er musste den Sprung in den reißenden Fluss einfach riskieren! Dann hatte er das Ufer erreicht, lief, solange ihn die Fluten auf den Beinen ließen, in das Wasser hinein – und wurde fortgerissen.

Er spürte die eisige Kälte des Wassers. In den ersten Momenten wurde er hinuntergedrückt, schluckte Wasser, stieß sich an großen Steinen auf dem Grund, wurde weitergewirbelt und drehte sich dabei im Kreis. Als er wieder auftauchte, schnappte er nach Luft, völlig hilflos wirbelten ihn Strudel herum. Henri gab nicht viel für sein Überleben, aber in sich spürte er eine kurze Freude darüber aufblitzen, dass seine Verfolger ihn nun nicht mehr einholen konnten.

Er war frei!

Aber der Fluss Segre hielt ihn dafür umso fester in seinen eiskalten Klauen.

Henri versuchte angestrengt, seinen Körper unter Kontrolle zu bekommen. Es gelang ihm nicht. Ein Schrei löste sich aus seiner Kehle. Es war ein Schrei der Verzweiflung, aber auch der unbändigen Kraft, zu überleben.

Henri kämpfte gegen die stärkeren Fluten. Er stieß mit Baumstämmen zusammen, die den gleichen Weg nahmen – hinunter in die Ebene. An einem Katarakt war die Talfahrt jäh zu Ende.

Henri wurde erst gegen einen Felsen geschleudert und verlor für Momente das ‘Bewusstsein. Dann kam ein riesiger Baumstamm auf ihn zu, dessen abgebrochene Äste sich ihm wie Spieße entgegenreckten. Der Baum verklemmte zwischen den Felsen, die schäumendes, weißes Wasser umspülte, er richtete sich auf, hielt sich in dieser Lage und beugte sich dann ächzend. Henri wurde dagegengeschleudert. Als er sich im Geäst verhakte, spürte er plötzlich etwas Scharfkantiges, das gegen seine Arme drückte. Die Kanten der abgebrochenen Äste waren spitz und hart. Henri begriff, das war seine Chance.

Er begann rücksichtslos, die Handgelenke mit den Fesseln dagegenzureiben. Dass dabei die Haut in Fetzen ging, kümmerte ihn nicht. Er sah, wie dünne Blutfäden von seinen gemarterten Armen im weißen Wasser davonschwammen. Gleichzeitig spürte er, wie sich der Baum gefährlich zu neigen begann. Er selbst hing mit den gefesselten Händen im Geäst fest. Wenn der Baum die Felsen des Kataraktes hinunterstürzte, würde er ihn einquetschen und seine Glieder zerschmettern.

Henri arbeitete noch schneller. Der Baum neigte sich und ächzte lauter, als bereite ihm die Gewalt des Wassers Schmerzen. Dann merkte Henri, dass er selbst es war, der Schmerzenslaute ausstieß. Die Fesseln lockerten sich nicht.

Henri blickte einen Herzschlag lang hinüber zum Ufer und glaubte, dort Gestalten zu sehen, die herumhuschten. Wenn dies seine Gefährten waren, dann konnten sie ihm nicht helfen. Er würde vor ihren Augen in die Tiefe gerissen werden und sterben! Henri kämpfte gegen das Unheil. Er dachte: Wenn man sich wehren kann, wenn man kämpfend untergeht, dann ist man in Gottes Hand. Aber es darf nicht sein, dass ich so erbärmlich ende!

Er spannte die Muskeln seiner kräftigen Oberarme und des Brustkorbs an. Er fühlte, noch einmal würde er diese enorme Kraftanstrengung nicht leisten können. Dann riss er mit aller Anspannung die Arme auseinander und schrie dabei so laut, als könnte sein Schrei zu einem Messer werden, das die Stricke durchschnitt.

Und sie rissen. Henris Arme schnellten nach vorn. Er war frei.

Henri drehte sich um, packte den Baumstamm. Er konnte nun verhindern, von den reißenden Wassern fortgerissen zu werden, hangelte an dem langen, mit scharfen Ästen gespickten Stamm entlang – und stieß sich ab. Er rutschte und fiel die glatten Steine des Kataraktes hinunter und tauchte unten tief in das strömende Wasser ein. Die Wirbel schleuderten ihn bis auf den Grund. Er sah nichts außer weißem Schaum und aufgewirbeltem Kies. Algen hielten ihn an Armen und Beinen fest und rissen ab, gaben ihn wieder frei für die Fluten, die ihn jetzt an die Oberfläche schleuderten.

Henri schnappte wieder nach Luft. Schon hatte der Sauerstoffmangel rote Kreise in seinem Kopf erzeugt. Er hustete, er spuckte Wasser, er ruderte mit den Armen. Jetzt konnte er halbwegs kontrollierte Schwimmbewegungen ausführen. Er nutzte das aus und schwamm mit kräftigen Stößen vorwärts.

Gleichzeitig fühlte er langsam seine Kräfte erlahmen. Die harten, tagelangen Bedingungen des Gefangenendaseins hatten ihn geschwächt. Henri mobilisierte seine letzten Reserven. Er musste es schaffen, auch wenn die Wirbel ihn immer wieder zurückwarfen, das jenseitige Ufer zu erreichen! Dort war die Rettung!

Er kämpfte mit erlahmenden Kräften. Dann spürte er, wie etwas neben ihm herschwamm. Wie einen Schatten, den ein großer Leib warf, spürte er den anderen. Harte Fäuste packten ihn. In seine letzten Schwimmbewegungen hinein lenkten sie ihn in eine andere Richtung. Henri, der in den Strudeln die Orientierung verloren hatte, dachte, dorthin will ich nicht. Es ist nicht die Seite, auf der Rettung wartet. Aber dann ergab er sich. Er leistete keinen Widerstand mehr, weder gegen die Fluten noch gegen die Fäuste.

Als Uthman ibn Umar ihn ans Ufer lenkte und Joshua ihn mit Hilfe der beiden Gefährten aus dem Wasser zog, konnte Henri de Roslin nur noch denken: Wie schön ist es, solche Freunde zu haben! Dann lag er auf der Seite und konnte sich nicht mehr rühren.

Als er nach einer Weile langsam wieder zu sich kam, blickte er in ihre sorglosen Gesichter. Uthman, Joshua und zwei fremde Gesellen. Henri richtete sich ächzend auf.

»Wo bleibt ihr so lange? Ich dachte schon, wir sehen uns nie mehr wieder!«

Die anderen lachten. Und Henri fiel in ihr Lachen ein, bis es in ein Husten überging.

Joshua sagte: »Der Christ lebt, es ist ihm nichts passiert, man merkt es sofort an seinen Vorwürfen. So sind Christen.«

»So sind Tempelritter!«, warf Uthman ein. »Sie brauchen Feinde. Lässt man sie einen Moment allein – schon findet man sie im Scharmützel wieder. Ich dachte, du studierst in Toledo die Kabbala, mein Freund! Stattdessen trägst du einen Zweikampf aus mit dem wildesten Fluss im Norden Iberiens.«