»Ein Mann braucht Bewährungen, die ihm angemessen sind, ein Gelehrter werde ich deshalb nie«, entgegnete Henri. »Aber wer sind eure beiden Gefährten?«
Uthman stellte die jungen Sarazenen vor. Henri gab ihnen dankbar die Hand. Beide blickten ihn neugierig und respektvoll an, sagten aber nichts.
Joshua sagte: »Wir sollten gleich aufbrechen. Die Verfolger werden es zwar nicht wagen, diesen Fluss zu überqueren. Aber ihre Pfeile könnten ihn überwinden.«
Henri blickte zurück. »Wie weit war ich in diesem Höllenfluss unterwegs?«
»Ungefähr zweitausend Schritt, eine halbe legua. Sie werden bald hier sein.«
»Stellen wir uns zum Kampf!«, schlug Uthman vor. »Es kann doch höchstens ein Dutzend Männer sein!«
»Das stimmt. Aber Ferrand de Tours ist darunter. Er kämpft für drei.«
»So war er es tatsächlich, der dich überfiel!«, sagte Joshua. »Wir dachten es uns. Du musst uns berichten, was seit Toledo geschah.«
»Das werde ich. Und wir werden gegen die Meute kämpfen. Aber nicht hier und nicht jetzt. Wir wählen uns einen besseren Kampfplatz aus. Sie werden weiter reiten nach Frankreich, auch ohne mich zu haben. Ich nehme an, sie werden in Avignon versuchen, ein Todesurteil gegen mich zu erwirken, um mich jederzeit beseitigen zu können. Ferrand ist rachsüchtig, er wird nicht aufgeben.«
»Der Mann ist wie ein Bluthund, der einmal die Fährte aufgenommen hat!«, meinte Uthman. »Deshalb werden wir ihn auch töten müssen – egal wo. Es muss nur sein, bevor er in Avignon neues Unheil gegen dich erwirken kann.«
»Oder bevor er auf seinem Weg nach Avignon eine weitere blutige Spur durch die Judengemeinden ziehen kann!«, warf Henri ein. »Er haust dort wie ein Berserker.«
Joshua war blass geworden. »Dann stellen wir ihn schon in der nächsten Stadt, die eine Aljama besitzt und auf dem Weg liegt! Eine solche Bestie hat kein Lebensrecht!«
Joshua hatte Henris Reittier Barq am Zügel mit sich geführt. Henri streichelte die Nüstern des stolzen Hengstes und flüsterte seinen Namen. Barq warf den Kopf, als antworte er.
Sie brachen schnell auf. Der Mond verschwand hinter Wolken, ließ aber genug Licht, um ihnen den Weg aus dem Wald herauszuweisen. Sie ritten voraus, weil sie jetzt zu wissen glaubten, wo sie auf Ferrand und seine Leute warten mussten.
Es wurde nicht so einfach, wie Henri und seine Gefährten es sich ausgedacht hatten. Aragon war ein unwegsames Land. Und seine Bewohner befanden sich im Aufruhr. Die Mahnrufe vom bevorstehenden Untergang der Christenheit, die Glaubensfanatiker überall verkündeten, versetzten alles in Angst und Schrecken. Und niemand schien sich im Angesicht des drohenden Untergangs noch an die Regeln überlieferter Menschlichkeit und Moral halten zu wollen.
Die Gefährten verloren Ferrand und seine Leute aus den Augen. Er kam nicht. Es schien so, als seien die Männer vom Erdboden verschluckt worden. Offenbar hatte die Horde einen Umweg genommen, um ihnen auszuweichen. Der Franzose wollte sich dem Kampf nicht stellen. Sie sahen schließlich ein, dass Ferrand de Tours sich nicht in ihrem Rücken, sondern bereits weit vor ihnen befinden musste.
Immerhin wurden Henri und seine Freunde aber auch nicht von ihm verfolgt. Sie mussten keinen Hinterhalt fürchten.
Bald begegnete ihnen die blutige Spur, die der Judenfeind durch das Land zog. In Martinet, noch am Ufer des Segre, kurz bevor die flache Landschaft Aragons in die steil aufragenden Riesen der Pyrenäen überging, stand Rauch am Himmel. Henri wusste sofort, was das bedeutete. Die Zeichen wiederholten sich.
Henri spürte beinahe so etwas wie Bewunderung für den Franzosen – er flüchtete vor ihnen, aber für seinen Hass gegen die Juden besaß er dennoch genug mörderische Kaltblütigkeit.
Sie vermieden es, in Martinet einzureiten, obwohl es Joshua zu der gefährdeten Aljama hinzog. Am nördlichen Ausgang der Ortschaft, dort, wo die Wege sandig waren und bald auch von Hochmooren feucht wurden, fanden sie die Spuren der Reiter. Die Abdrücke der Hufe veränderten sich im gewissen zeitlichen Abstand, daraus schlossen die Verfolger, dass Ferrands Leute ständig die Pferde wechselten. In einem flachen Teich fanden sie den Karren, den die Männer einfach stehen gelassen hatten, weil sie keinen Gefangenen mehr zu transportieren hatten. Und in der Nähe sechs erschlagene Pferde, deren man sich wahrscheinlich entledigt hatte, weil sie »heruntergeritten« waren, wie Uthman es ausdrückte. Offenbar hatte es Ferrand eiliger, als sie angenommen hatten, nach Frankreich zu gelangen.
Bei Molina suchten sie eine Schlucht, die sie durch die Berge führte, so vermieden sie den Ritt über die Pässe. Aber dann stiegen die Pfade doch an. Wenn man nicht weiter nach Osten, zum Meer hin, ziehen wollte, wo es Handelsstraßen direkt am Strand entlang gab, musste man Aufstiege in Kauf nehmen.
Ferrand blieb unsichtbar, er schien zu fliegen. Henri wusste, dass seine restlichen Reittiere diese Hatz nicht lange durchhalten konnten und bei jeder Gelegenheit gewechselt werden mussten. Er und seine Gefährten waren auf ihre Pferde angewiesen und konnten deshalb nur langsam und stetig weiterreiten, um den Franzosen schließlich irgendwo einzuholen.
Aber Ferrand de Tours war mit allen Wassern gewaschen, und Henri mutmaßte immer stärker, man würde ihn erst in Avignon sehen, wo Ferrand eine größere Übermacht gegen die Verfolger stellen konnte, die er offenbar fürchtete.
Als die Gefährten sich Saillagouse, wo man schon Französisch sprach, näherten, blickten sie über das Land. Ferrand und seine Leute waren nicht zu sehen. Eine Grenzkontrolle gab es nicht. Später sollten sie erfahren, warum. Der Weg führte eine Weile einen Berg empor und dann ins Tal. Unten läuteten Kirchenglocken, man feierte das Fest zum Gedächtnis der Schmerzen Marias.
Henri hätte dieses Fest seiner Schutzpatronin gern mitgefeiert, gerade auch deshalb, um die erhabenen christlichen Gefühle nicht solch schlechten Christen wie Ferrand de Tours zu überlassen. Aber es blieb keine Zeit. Und so murmelte er nur im Gebet: »Du hast sie aus allen Menschen erwählt und gesegnet vor allen Frauen. In ihr leuchtete auf die Morgenröte der Erlösung. Sie hat uns die Sonne der Gerechtigkeit geboren. Amen.«
»Was sagst du?«
Henri sah zu Joshua hinüber. »Es sind die Marientage. Aber an das Fest der sieben Schmerzen der seligen Jungfrau darf ich höchstens einmal denken.«
»Du holst alle deine Feste nach, wenn wir in Avignon sind.«
Henri verknüpfte mit der Stadt der Päpste zu ungute Erinnerungen, um ihm frohen Herzens zustimmen zu können.
»Nein!«, rief Uthman in diesem Moment, »wir feiern, wenn wir Ferrand haben. Denn schaut einmal voraus! Für was haltet ihr diesen Anblick dort?«
Verblüfft starrten Henri und Joshua auf das, was sie in der Ferne zu sehen bekamen. Auf einer Anhöhe, dort, wo sich ein Schwarm Krähen zu sammeln schien, den Joshua ebenso fürchtete wie den Tod, denn diesen brachten die aasfressenden Vögel gewöhnlich mit sich, dort stand plötzlich, wie eine Mauer, eine Reihe von Kämpfern.
Ihre Umrisse hoben sich gegen die Sonnenstrahlen ab. Ein Lichtkranz schien sie zu umspielen.
»Ferrand?«
»Wohl kaum.«
»Wer dann?«
»Wir werden es gleich erfahren. Sie kommen näher.«
Die Fremden ritten in breiter Reihe heran. Sie trugen Piken und Schwerter. Und sie schienen keine Eile zu haben. Als sie auf schnaubenden Pferden vor den Gefährten hielten, ein Dutzend hagerer Gestalten mit finsteren Blicken, hob Henri die Hand zum Gruß.
»Gott mit Euch! Auf welchen Wegen seid Ihr?«
Ein Reiter, offenbar der Anführer, trieb sein staubbedecktes Pferd mit einem Schenkeldruck aus der Reihe nach vorn. »Wir sorgen für Ordnung. In Frankreich herrscht das Chaos, und an der Grenze fließt Blut. Die Grenzwachen sind von einer durchziehenden Horde getötet worden.«