Ferrand!, dachte Henri. Und er sagte: »Wir verfolgen ein Dutzend Männer auf schnellen Pferden, die in Iberien Unheil unter den Judengemeinden angerichtet haben. Sie werden die Mörder gewesen sein.«
»Wer sind diese Unholde?«
Henri machte eine unbestimmte Geste. »Söldner der französischen Bastarde, die sich inzwischen um die Krone balgen.«
»Das habt Ihr richtig ausgedrückt, mein Freund«, sagte der grimmige Soldat, »denn in Frankreich kämpft nach dem Tod Philipps jeder gegen jeden.«
Dann war meine Tat nicht segensreich für das Land, musste Henri denken. Das habe ich wahrlich nicht gewollt. Ich dachte, dass nach dem Tod Philipps alles besser werden würde.
Er fragte weiter: »Kann man sich noch immer nicht auf einen Nachfolger einigen?«
»Der zehnte Ludwig führt die Geschäfte, aber er ist ein schwacher Kandidat, daneben ist Johann und sind Philipps Söhne auf dem Sprung. Wer es schließlich macht, bleibt offen. Und bis dahin versinkt das Land in Wirren.«
Henri nickte. »Könnt Ihr uns den besten Weg durch die Pyrenäen zeigen? Wir sind in Eile.«
Der Soldat wies hinter sich in die Höhen. »Den Weg dort, auf dem wir kamen, weiter bis Puigmal, es geht aber auf Ziegenpfaden über die hohen Gipfel. Anderswo sind die Pyrenäen allerdings noch gewaltiger. Dann folgt Ihr zwei Tage lang den Geröllwegen bis Saint Martin und kommt in die Ebene. Erst vor Quillan steigt die Landschaft wieder an.«
»Ich danke Euch!«
Man verabschiedete sich mit sparsamen Gesten voneinander. Als Henri sich im Sattel umwandte, standen die Soldaten noch immer unbeweglich da, als misstrauten sie ihnen. Die Bewaffneten waren nicht gerade vertraueneinflößend, aber immerhin eine Ordnungsmacht. Ganz ohne Gesetz war Frankreich also nicht.
Die Wege waren so, wie der Soldat es beschrieben hatte. Und immer behielten sie Ferrands Spuren im Blick – aber der Franzose schien weiterhin wie auf Zauberrossen vor ihnen herzufliegen.
Kurz hinter Puigmal begann der steinige Weg abschüssig zu werden. Nachdem sie mehrere Meilen zurückgelegt und dabei hässliche, primitive Weiler am Hang aus windschiefen Ställen passiert hatten, in denen sich kein Leben rührte, kamen sie in einem Ort an, der ohne Namen war. Das lag, wie sie von einem Anwohner erfuhren, daran, dass mehrere durchziehende Armeen die Bewohner immer wieder zum Umtaufen gezwungen hatten. Jetzt wollten sie lieber in einem namenlosen Ort wohnen.
Auf dem Gipfelplateau wehte nach dem Aufstieg über Serpentinen ein eisiger Wind. Hier lag noch Schnee. Die Aussicht über Grate, Bergklüfte, weiß bestäubte Baumwipfel, hinabstürzende Bäche an den Hängen und grünbraune Ebenen zwischen den Gipfeln war so atemberaubend, dass Henri für Momente den ernsten Grund seines Hierseins vergaß. Wolkenformationen zogen rasch dahin oder quirlten in sich, Licht durchpulste die Nebelschleier wie ein inneres Herz. Etwas wie Pathos, das ihn erschauern ließ, umwehte die Höhen und senkte sich tief in Henris Geist und Gemüt. Auch seine Gefährten zeigten sich beeindruckt. Henri musste aber auch denken, dass die Berg-massive, die so unförmig und doch so erhaben über die gewöhnliche Gleichmäßigkeit der Natur hervorragten, den Menschen bei ihrem Anschauen zu dem verkleinerten, was er wirklich war. Kaum mehr als ein Staubkorn im Wind.
Seine Versenkung wurde jedoch abgelöst von den Gedanken an die Aufgabe, die sie erwartete.
Sie wagten beim Weiterreiten manchmal nicht, in die Tiefe zu schauen, in der die Felsen zusammenzuwachsen und alles zu zerquetschen schienen. Schließlich erreichten sie jedoch wieder die schneefreie Zone. Dort lag eine winzige Hütte, in der heißes Schneewasser ausgeschenkt wurde. Der Bedienstete erzählte ihnen, dass gut dreißig Stunden zuvor ein Dutzend Männer die Pferde getauscht hätte.
»Die alten haben sie dagelassen?«
»Ihr könnt sie hinter dem Haus anschauen, ihr Zustand ist erbärmlich.«
Auf dem weiteren Weg kamen sie an einem Höhensee vorbei, der nicht vereist war, warmer Dunst stieg aus seinen Tiefen auf. Ein zweiter See zeigte sich später. Und an seinem Ufer lag unvermutet ein Gasthof, in dem es frisch gefangene Forellen gab. Henri und die Seinen beschlossen, eine Rast einzulegen, und sie hatten das Gefühl, noch nie etwas ähnlich Köstliches gegessen zu haben wie die gebratenen Fische dieser Locanda. Ihr Hunger nach all den Strapazen würzte sie auf unnachahmliche Weise.
Die Nacht verbrachten sie wegen der Kälte dicht an dicht auf Strohsäcken. Es war unbequem, und es stank nach den Ausdünstungen vieler Durchziehender, die vor ihnen hier gewesen waren. Und doch schliefen die vier Männer traumlos und erwachten erst kurz vor Sonnenaufgang.
Jetzt ging es an Gletschern und Gipfeln vorbei, deren Spitzen nicht nur in die Wolken ragten, sondern mit dem Himmel selbst in Berührung zu kommen schienen. Joshuas Fuchs lahmte, konnte aber nach einer angemessenen Pause weitertraben. Ein langer Bergbach, der nach Süden abfloss, diente ihnen einen Tag lang als Orientierung.
In der Nähe von Saint Martin lag ein Kloster, in dem Zisterzienser ihr karges Dasein fristeten, von denen niemand älter als dreißig war, weil die Älteren den strengen Winter in den Höhen nicht überstanden hätten. Henri erinnerte sich wehmütig an bessere Zeiten, als er mit den Zisterziensern noch freundschaftlichen Umgang gepflogen hatte. Der heilige Bernhard von Clairveaux hatte einst die gemeinsamen Ordensregeln für die Mönche und auch für den Templerorden erdacht. Vor dem Kloster, an dem sie jetzt kurz hielten, stürzte der Bach, der auf seinem Weg durch tauenden Schnee angereichert worden war, jäh zu Tal. Sein Getöse wurde als Echo von Felsen und Schluchten zurückgeworfen.
Die Reiter kamen wieder an gefährlichen Abhängen vorbei, auf Felsvorsprüngen zeigten sich wilde Ziegen und einmal zwei zottlige Braunbären. Einmal mussten sie über eine schwankende Brücke, die aus nichts als zusammengebundenen Kieferstämmen bestand. Jetzt konnten sie nur auf Gott und ihre sicheren Reittiere vertrauen, die sie hinter sich am Zügel herführten. Henri rief seinen Gefährten zu, sie hätten doch lieber den Weg zum Meer suchen sollen, doch die winkten nur ab und ritten mutig weiter. Wenig später fanden sich die ersten trockenen Moosflechten auf dem Stein, danach spärliche Lärchen und Tannen.
Hinter Saint Martin, einem Bergdorf mit gelben Häusern, das von den Felsen schier erdrückt wurde, mussten sie ihre Pferde erneut ausruhen lassen. Es fiel ihnen auf, dass viele Dorfbewohner monströse Kröpfe und fleischige Zysten unter dem Kinn hatten, einige so groß, dass sie mit einem zusammengebundenen Leinenstreifen unter dem Kinn gehalten werden mussten.
»Sie kennen die ärztliche Kunst der Sarazenen und Mauren nicht«, meinte Uthman.
»Könnte man den Bedauernswerten helfen?«
»Natürlich! Allah ist groß! Und seine Ärzte operieren mit seiner Weisheit!«
Wieder ging es an einem herabstürzenden Fluss entlang, und sie kamen nach Querigut. Von dort über den nächsten Pass war es nicht mehr so gefährlich, der Berg besaß nun feste Straßen, die führten nach Quillan hinunter, einer lebendigen Stadt an einem kleinen See.
Die Pferde wurden an einer dafür gebauten Station mit einem weitläufigen Stall versorgt, man rastete erneut einen halben Tag.
Und am nächsten Morgen war, mitten im September, der Winter da!
Es schneite zwei Tage lang. Ein böiger Wind trieb die dicken Flocken vor sich her. Als die Gefährten sich schon auf einen längeren Aufenthalt einrichteten, hörte der Schnee auf. Und am nächsten Morgen stand plötzlich eine warme, strahlende Sonne an einem klaren Himmel. Es roch wieder nach Spätsommer. Henri trieb die Gefährten an.
Am Fuß der Pyrenäen war der Sommer noch im vollen Gange. Und sie konnten es kaum glauben, als ein alter Mann an einer Pferdestation sie warnte: »Die Straße nach Carcassonne wird von einer Bande Quillaneser Räuber beherrscht! Sie verlangen Lösegeld, morden und rauben! Die Seuche, die gerade nach Westen abgezogen ist, soll zurückkehren und sie dahinraffen!«