»Tue es nicht!«, schrie Uthman. »Sein Tod ist keine Lösung!«
Henri hörte die Worte wohl. Aber das Bild, das sich ihm bot, sprach eine andere Sprache. Vor ihm lag der Mann, der so viel Unheil über ihn gebracht und ihn in Frankreich verleumdet hatte. Der ihn getäuscht hatte. Der eine Spur der Verwüstung durch die Judengemeinden des Landes gezogen hatte. Eine Ausgeburt. Henri wollte ihn auslöschen. Es war zu verlockend. Ein einziger gezielter Stoß, und der Menschheit drohte eine Gefahr weniger. Henri fasste sein Schwert fester.
»Mein Freund«, sagte Uthman dicht neben ihm, »wir können nicht für die Versöhnung der Menschen kämpfen, wenn wir unsere Hände unnötig mit Blut besudeln. Du beschädigst dich selbst, wenn du ihn tötest.«
Henri lockerte seinen Griff wieder.
Er wusste, der Sarazene hatte Recht. Er blickte dem Gefährten, der über und über mit Blut bespritzt war, in die Augen. Darin verlöschte gerade die Kriegswut, und ein trauriger Schimmer kam zum Vorschein.
Als Henri sich umwandte, erblickte er die getöteten Gesellen Ferrands, keiner bewegte sich mehr. Dann sah er, wie die anderen Reiter näher kamen, angeführt von den beiden jungen Sarazenen. Auch Joshua war neben ihnen, seine Brille verrutscht. Henri sagte zu dem Juden: »Binde Ferrand so, wie er mich gebunden hat.« Dann ging er gemeinsam mit Uthman den Ankommenden entgegen.
»Wer sind sie?«, rief Uthman den jungen Sarazenen zu.
»Sie raubten eine Aljama aus, da kam ihnen der Franzose in die Quere!«
Uthman und Henri blickten sich an.
»Wir können wirklich von Glück sagen, dass sie sich nicht gegen uns verbündet haben«, sagte Henri leise.
»Es sind nur zehn. Wir nehmen es gegen sie auf«, erwiderte Uthman.
»Ich bin den Kampf müde, vielleicht können wir uns mit ihnen einigen.«
»Mit Judenschändern?«, schrie Joshua auf.
»Lass uns hören, was sie fordern.«
Die Reiter kamen näher. Die beiden jungen Sarazenen machten Platz, und so konnten sich die Ankömmlinge vor Henri und Uthman aufbauen. Sie trugen eine Kleidung, die aus Fundstücken aller Schichten und Glaubensgemeinschaften zusammengesetzt war. Am meisten störte Uthman und Henri, dass einige flache Judenmützen auf den Köpfen trugen, die sie sicher von Getöteten erbeutet hatten. Ihr Gehabe drückte Unverschämtheit und Rauheit aus. Der Anführer war ein dunkelhäutiger Mann, dessen Bart verfilzt und dessen Gesicht von Narben zerfurcht war, seine Augen blitzten.
»Gebt uns den da heraus, dann lassen wir euch leben«, sagte er in provencalischer Sprache.
Henri lachte mit dem wohltönenden Bariton seiner lauten Stimme. »Ihr könnt von Glück reden, wenn wir es sind, die euch wieder abziehen lassen!«
Verdutzt blickte der Räuber ihn an. »Was sind das für kuriose Worte? Seht ihr nicht, dass wir euch haushoch überlegen sind? Wir nehmen uns, was wir wollen!«
»Ich bin Tempelritter, mein Freund. Und an meiner Seite ist ein kampferfahrener Sarazene. Wenn wir im Heiligen Land erfolgreich gegen eine zehnfache Übermacht kämpften, glaubt ihr, wir könnten uns nicht gegen euch behaupten?«
»Versucht es doch!«
Die Pferde tänzelten nervös.
»Vorsicht, Henri!«, zischte Uthman zwischen den Zähnen hervor.
»Gebt uns den da heraus!« Wieder wies der Anführer mit dem Schwert auf Ferrand.
Henri blickte zurück, wo Joshua den Franzosen inzwischen gebunden und einen Fuß auf ihn gesetzt hatte.
»Geben wir ihnen Ferrand, was liegt uns an dem Judenhasser!«, zischte Uthman.
»Nein. Das würde Ferrand mit mir machen. Ich will nicht ehrlos handeln wie er, nur um meine Haut zu retten. Sie würden ihn zerfleischen.«
»Nun, und?«
»Uthman!«
»Wölfe zu Wölfen!«
»Also! Gebt ihr ihn freiwillig heraus?«
Ferrand wimmerte im Hintergrund.
Henri sagte mit ruhiger Stimme: »Ferrand gehört allein mir. Ich will dir nicht erklären müssen, warum. Es ist eine längere Geschichte von Vertrauen und Verrat. Stellt eine andere Forderung – oder trollt euch.«
Der Anführer schien mit diesem festen Widerstand nicht gerechnet zu haben. Er zog am Zügel und ließ sein Pferd einmal auf den Hinterläufen um die eigene Achse kreisen. Unschlüssig starrte er dann Henri an.
»Nun gut. Wir holen ihn uns, wenn der Zeitpunkt dafür günstig ist. Von jetzt an werdet ihr keine ruhige Minute mehr haben. Wir kriegen euch, wenn ihr nicht mit uns rechnet! Einen angenehmen Tag noch, Freunde!«
Hohnlachend machte er kehrt und ritt mit seinen Gesellen im wilden Galopp davon.
»Die sind wir los, aber wohl nicht lange«, meinte Henri aufatmend.
»Was stellen wir mit Ferrand an, Henri?«, wollte Joshua wissen. »Wäre es nicht wirklich besser gewesen, ihn auszuliefern? Dann sind wir ihn ein für alle Mal los.«
Henri hatte einen Plan gefasst. »Wir nehmen ihn mit. Ich will, dass er in Avignon die Wahrheit sagt. Ich will, dass der Haftbefehl gegen mich zurückgenommen wird. Und dass die Juderia in Toledo von allen Anschuldigungen entlastet wird. Sonst leben dort alle weiter in Todesgefahr. Wir brauchen Ferrand also lebend, er ist unser wichtigster Zeuge!«
Die anderen brummten widerstrebend, aber letztlich zustimmend. Und einer der jungen Sarazenen sagte: »Wir ruhen uns tagsüber aus und reiten nachts. So sind wir am besten gegen Überfälle geschützt. Wie lange brauchen wir bis Avignon?«
»Sechs Tage«, schätzte Joshua. »Und du willst wirklich in die Stadt deiner Feinde, Henri? Glaubst du, dort Gerechtigkeit zu finden?«
»Um zu erreichen, was zu erreichen ist, muss ich es wagen. Unser Bruder Bernhard sagte: Viele sind berufen, aber nur wenige sind auserwählt. Er zitierte damit das Tempelgleichnis des heiligen Augustinus, in dem dieser die tief gläubigen, auserwählten Menschen Steine nannte, mit denen der neue Tempel Gottes gebaut werden würde. Wir sind solche Auserwählte, man rechnet mit uns – ob wir es wollen oder nicht. Wir dürfen keiner Gefahr ausweichen.«
Joshua seufzte. »Dürfen Auserwählte auch Angst haben?«
»Natürlich. Aber sie dürfen ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren.«
»Das sagt sich leicht. Aber was heißt das in unserem Fall?«
»Wir müssen Gefahren von Schwächeren, die sich nicht selbst verteidigen können, abwenden. Die Juderia in Toledo braucht unser Handeln. Denk daran, in welcher Gefahr sie noch immer schwebt! Denk an Theophil, an Azaria, an die Schüler der Übersetzungsschule, an wen du willst!«
Uthman schwieg zu allem. Henri blickte den Gefährten an und sagte:
»Wenn du, Uthman, nicht dorthin zurückwillst, wo man dich als Mörder des Papstes erkennen kann, dann trennen wir uns vor den Toren der Stadt.«
»Mein Vater Umar ibn al-Mustansir, Allah sei ihm gnädig, sagte immer, wer davor zurückscheut, dem Feind ins Weiße des Auges zu blicken, der kann ihn nicht besiegen.«
»Dein Vater war ein weiser Mann. Aber sein Sohn muss sich trotzdem in jeder neuen Lage frei entscheiden.«
»Wir werden sehen. Lasst uns reiten. Es wird noch ein langer, beschwerlicher Weg.«
Sie verstauten den gefesselten Ferrand bäuchlings auf Henris Reittier. Der Franzose wehrte sich, er biss und trat um sich wie ein gefangenes Tier. Henri musste die Fesseln fester anziehen, um ihn zur Vernunft zu bringen. Ferrand blickte ihn danach nur noch hasserfüllter an.
Dann legten sich die Gefährten die Hände auf die Schultern und sahen sich noch einmal schweigend in die Augen. Sie brauchten keine Worte. Stumm gelobten sie sich, immer füreinander da zu sein.
Dann schwangen sie sich auf die Pferde, gaben die Zügel frei und trabten an.
9
September 1315, in Avignon