Der Kardinal blickte den Generalinquisitor ungläubig an, dessen Kranz schlohweißer Haare wie eine würdevolle Krone wirkte. Aber diese Krone adelte ihn nicht, denn Guillaume de Imbert hatte sie sich auch durch die Ausübung sadistischer Gewalt erworben. Er hatte sein Leben lang gebetet und gefoltert.
»Ja, es ist wahr«, wiederholte der Großinquisitor noch einmal in das Schweigen der kleinen Versammlung hinein, die er im Dominikanerkloster einbestellt hatte. »Sie sind nicht tot. Sie rühren sich noch. Diese Charta hier schließt alle jene aus dem Orden aus, die aus Frankreich geflohen sind. Und sie macht jene zu Helden, die den Tempelorden in heimlicher Wühlarbeit weiterführen. Und an vorderster Stelle wird jener verfluchte Ketzer Henri de Roslin genannt, der den König ermordete und uns leider aus Fontainebleau entkam, was ich übrigens noch immer nicht verstehen kann.«
»Wer verfasste diese Charta denn, die jetzt geschrieben wurde, damit Templer sie an ihresgleichen weitergeben?«, wollte der Kardinal wissen. Die anwesenden Dominikaner nickten dazu. Sie wollten alles über den verbotenen Tempel wissen, denn die domini canes, die Hunde des Herrn, waren mit seiner Ausrottung beauftragt worden. Und sie wollten diesen Auftrag gewissenhaft bis zum Ende erfüllen.
Der Generalinquisitor rückte sein edles Hermelinbarrett, das mit goldenen Spangen geschmückt war, auf den weißen Haaren zurecht. »Wir kennen die Verfasser nicht und können sie uns auch nicht vorstellen. Der Orden ist gründlich zerschlagen. Die Großmeister längst zu Asche verbrannt. Aber Henri lebt. Nun, wir erwarten ihn bald in Avignon, eskortiert von guten Männern unter Leitung des wackeren Ferrand de Tours. Die Straßen bis zu unseren Mauern werden von Bewaffneten gesäumt sein, damit auch gar nichts passieren kann. Henri ist wieder in unserer Hand!«
»Er ist das Haupt. Wenn wir ihn haben, zerschlagen wir auch den Körper dieser Brut!«
»Aber diesmal machen wir es gründlich. Hier werden wir ihm offiziell den Prozess machen. Und bis zum Tag des Urteilsspruches verbleibt er in unserer Gewalt. Das sind – wie soll ich es ausdrücken – glänzende Aussichten! Wir werden von Henri alles erfahren, dafür besitzen wir die Mittel. Und wir werden keine Rücksicht nehmen, denn verurteilt wird er in jedem Fall. Da ist es gleich, ob ihm ein paar Glieder fehlen oder nicht.«
»Ich rate zur Vorsicht«, warf ein Prior des Klosters ein. »Schon manchmal wurde ein Angeklagter nach der Folter freigesprochen. Es wirft ein ungünstiges Licht auf die Kirche, wenn der Mob erfährt, dass wir die Delinquenten vorverurteilen.«
»Wir werden ihn verurteilen, keine Angst. Es liegen zu viele triftige Anklagepunkte gegen ihn vor.«
»Nennt sie doch einmal, Generalinquisitor, Eminenz!«, warf einer der jungen Dominikaner mit heller Stimme ein.
Imbert blickte ihn mit einem vernichtenden Blick an, der den Jungen erröten und für den Rest der Beratung verstummen ließ. Dann bequemte er sich zu sagen: »Nun, er hat Ketzerei in jeder Form begangen. Hinwendung zum Irrglauben des falschen Propheten Muhammad, Hinwendung zum Judentum, Hinwendung zum Katharismus. Er hat sich ein für alle Mal vom Christentum abgewendet. Er erkannte in Jesus Christus nicht Gottes Sohn, sondern einen Sterblichen, der ans Kreuz genagelt wurde, weil er den Aufruhr predigte. Henri de Roslin und seine Tempelbrüder bespuckten das Kreuz, weil sie im Martyrium des Herrn eine Geschichtsfälschung unserer allerchristlichsten Kirche sahen!«
Die Anwesenden bekreuzigten sich, zutiefst erschrocken. In das Schweigen hinein fragte ein Dominikaner: »Werdet Ihr diesem Templer das alles auch nachweisen können, Eminenz? Jedenfalls so, dass die murrende Menge es glaubt?«
»Vor dem Gericht werden wir anders argumentieren«, erwiderte Imbert mit fester Stimme. »Wir werden sagen, dass er einen Wachmann ermordet hat, dafür gibt es genügend Zeugen. Aber das ist nur der erste Anklagepunkt. Wir werfen ihm weiter vor, an ketzerischen Versammlungen teilgenommen zu haben, auf denen Götzen verehrt wurden, die Sakramente missachtet zu haben, obszöne Praktiken mit Abhängigen geführt zu haben, ketzerische Absolution an Sterbende im Gefängnis von Paris erteilt zu haben, von unchristlicher Habgier durchdrungen zu sein. Und wenn das alles noch nicht reichen sollte, dann rollen wir den rätselhaften Tod König Philipps im Wald von Fontainebleau noch einmal auf. Wir werden Henri anklagen, den König ermordet zu haben – wovon ich übrigens überzeugt bin. Auch dafür werden wir Zeugen auftreiben.«
»In allen Untersuchungsakten steht, dass der Tod des Königs während der Jagd im Wald von Bière und Saint Maxence durch ein Wildschwein herbeigeführt wurde, Eminenz!«
»Wer behauptet das? Warst du dabei, Prior?«
»Nein, Eminenz. Man sagt so. Es ist aktenkundig gemacht worden.«
»So, so – aktenkundig, wie?«
»Ich habe alles genau gelesen, Eminenz. Der König jagte das Wildschwein, verfehlte es jedoch. Als die Bestie nun ihrerseits zum Angriff überging, verletzte sie das königliche Reittier, der König wurde abgeworfen. Dabei blieb Philipp mit einem Fuß im Steigbügel hängen. Vor Schreck und Schmerz galoppierte sein Reittier durch den Wald und schleifte den hilflosen König hinter sich her durch das Unterholz, wobei Philipp schwere Verletzungen davontrug – wie man sich vorstellen kann. Als ihn seine Leute fanden, schafften sie ihn Richtung Fontainebleau. Er wurde auf dem Wasserweg nach Poissy gebracht, wo er zehn Tage blieb. Schließlich erholte er sich so weit, dass er bis Essonnes reiten konnte, doch musste er wegen seines sich zunehmend verschlechternden Zustandes von dort aus mit einer Sänfte nach Fontainebleau gebracht werden. Dort starb er unmittelbar darauf am 29. November im Jahr des Herrn 1314.«
»Jägerlatein! Davon ist kein Wort wahr!«
»Nun – wie Ihr meint, Generalinquisitor. Ihr wart ja dabei…«
»Es war Henri! Er ist ein Königsmörder! Dass man ihn als solchen bisher noch nicht anklagte, wie ich wollte, das liegt nur daran, dass ein solcher Verdacht die Öffentlichkeit sehr beunruhigen würde. Und das ist in der Tat gefährlich und zu verhindern. Denn wenn der Mob begreift, dass jeder hergelaufene Rabauke die höchsten Würdenträger, die von Gott eingesetzt sind, beseitigen kann! Dann – dann…«
»Das darf nicht sein, Ihr habt Recht. Ein solcher Prozess gegen Henri muss die ultima ratio bleiben. Ich glaube wie Ihr, dass die anderen Anklagepunkte vollauf genügen, um ihn auf den Scheiterhaufen zu bringen.«
»Wir müssen hart durchgreifen«, sagte Imbert. »Solche Ideen dürfen auf gar keinen Fall in der Öffentlichkeit auftauchen! Schon hört man auf den Straßen von Paris, dass gelehrte Professoren verkünden, Tyrannen dürften getötet werden. Sie sagen, jeder Untertan oder Vasall von Rechts wegen darf jedes beliebige Mittel dafür einsetzen, insbesondere List, ohne dass er Rücksicht auf irgendeinen Eid oder Vertrag nehmen oder ein gerichtliches Urteil abwarten müsse. Stellt euch das vor, meine Brüder!«
»Das ist ja geradezu eine Handlungsanleitung für einen Ketzer wie Henri de Roslin!«
»Man muss gestehen, dass es nicht einmal schwierig für diese Herren Professoren ist, in der Heiligen Schrift eine Unterlage für derartige Ansichten zu finden. Nehmt nur die Ermordung des Zimri durch Phineas oder des Holofernes durch Judith. Aber sie gehen doch zu weit, wenn sie sagen, auch der Heilige Michael sei ein Tyrannenmörder gewesen, wenn er, ohne das göttliche Gebot abzuwarten und nur von natürlicher Liebe getrieben, Satan erschlagen und dem ewigen Tod überliefert hat und dafür die herrlichsten himmlischen Belohnungen empfing.«
Einer der anwesenden Notare des Königs fragte: »Wird uns Henri der Ketzer auch endlich verraten, wo der Schatz der Tempelherren versteckt ist? Wir suchen jetzt schon sieben lange Jahre danach, und auch alle Befragungen verliefen ergebnislos! Unsere Kassen sind inzwischen leer!«
Imbert beeilte sich zu versichern: »Natürlich werden wir es aus ihm herauskriegen! Denn wie gesagt, unseren Folterinstrumenten widersteht auch ein Ketzer nicht! Selbst ein so hart gesottener Tempelritter wie Henri nicht, der während seiner Ausbildung auf jede Tortur vorbereitet wurde. Der Schatz, den niemand außer Henri de Roslin kennt und der deshalb überall versteckt sein kann, wird uns die Herrschaft über die bekannte Welt bescheren! Wir werden einen neuen Kreuzzug organisieren, was schon der verstorbene Papst Clemens wollte, aber leider nicht mehr bewirken konnte. Mit diesem Schatz führen wir den letzten aller Kreuzzüge, der zur Ausrottung aller Ungläubigen im Heiligen Land beitragen wird. Das Königreich Jerusalem wird wieder errichtet, meine Brüder!«