»Halleluja!«
Der Bischof von Avignon, ein alter Mann mit rotem Gesicht, warf ein: »Bruder Guillaume, vielleicht gibt es einen solchen Schatz gar nicht. Habt ihr nicht in Frankreich schon überall gesucht? In Gisors? In Poitiers? In La Rochelle? Sogar in den Tempelburgen auf dem Boden des englischen Lehens?«
»Es gibt diesen Schatz«, sagte Imbert kalt. »Wir haben Zeugenaussagen von gefolterten Templern. Ein gewisser Johann von Chalon gab zu Protokoll, er habe den Abtransport von unermesslichen Goldschätzen auf drei großen Wagen im Jahr unseres Herrn 1307, zwei Nächte vor der Verhaftung der Templer, selbst geleitet. Leider nur bis Eu, dann übernahm ein anderer die Fuhre. Und das waren nur die Reichtümer aus der Pariser Burg! Man transportierte den Schatz unter Stroh nach Norden. Gold, Silber, Juwelen, die uns gehören.«
»Wir hörten davon. Man sagt, es habe sich um den Schatz des Generalvisitators gehandelt und Gerard de Villiers und Hugo von Chalons hätten ihn in Empfang genommen.«
»Aber wo ist er geblieben?«, Imbert brüllte es beinahe. Dann beruhigte er sich wieder. »Wir stellten in der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober des Jahres 1307 überall Straßensperren auf, weil wir ahnten, dass die verfluchten Templer ihre Reichtümer verstecken wollten. Und sie haben es dennoch geschafft! Jemand muss sie gewarnt haben.«
»Man sagt, sie können in die Zukunft blicken, und das macht sie unantastbar! Sie haben ein Buch, das alle Ereignisse bis zum Jüngsten Gericht vorhersagt.«
Die schüchternen jungen Dominikaner brachen in ein Gemurmel aus.
Der Kardinal sinnierte: »Auf drei großen Wagen, sagt Ihr, wurde der Schatz abtransportiert? War das der Ausdruck? Seltsam. Hat der Verhörte das so zu Protokoll gegeben? Könnte es nicht sein, dass es sich dabei um eine Verklausulierung handelte?«
»Was meint Ihr, Eminenz?«, wollte aufgeregt ein junger Dominikaner wissen.
»Nun, meines Wissens nach nannten die Templer ihre Burg in Gisors, die hoch droben über dem Städtchen thront, den Tempel der drei Wagen!«
»Wie sollen wir das verstehen, Kardinal?« Imbert war erstarrt.
»Ich las einmal, die Templer hätten diese Burg nach den Sternen ausgerichtet. Nach dem großen Wagen, dem kleinen Wagen – und dem Wagen der Meere, der am unsichtbaren Teil des Himmels unter der Erdenscheibe liegt, wenn die beiden anderen in einer einzigartigen Konstellation zusammenstehen. Aber ich verstehe nicht viel von Astronomie, diesem Teufelszeug der Araber.«
»Was wisst Ihr noch darüber?«
»Die außergewöhnliche Konstellation dieser drei Wagen am Himmelszelt ergibt sich nur an einem einzigen Tag im Jahr. Zum Heiligen Abend. Es ist, wie ihr Herren alle wisst, der Geburtstag unseres Heilands. Und die Templer – verzeiht! – taten alles im Namen Jesus Christus’.«
»Aber das ist doch Unfug!« Imbert löste sich aus seiner Erstarrung. »Ammenmärchen!«
»Bedenkt, dass Gisors genau an der alten Römerstraße von Paris nach Eu liegt. Und von Eu aus, wo es einen von den Templern angelegten Hafen gibt, führt eine Wasserstraße direkt nach Norden, also dorthin, wohin man den Schatz wahrscheinlich bringen wollte. Nach Schottland. Oder zumindest in die Bretagne, als Zwischenlösung.«
»Wie faszinierend das alles ist!«, platzte der junge Dominikaner heraus.
»Ja, für Kinder!«, raunzte ihn Imbert an. »Das sind Ammenmärchen! Wir haben in Gisors gesucht und nichts gefunden. Nichts! Wollt Ihr das endlich einsehen, meine geliebten Brüder!« .
Die übrigen Mitglieder der Versammlung, Priester, Priors, Mönche, königliche Notare, tuschelten nun ungehemmt. Der kluge Imbert ließ sie eine Weile gewähren.
Wieder sprach der Kardinal. »Wenn die Templer vor ihrer Verhaftung gewarnt worden sind, konnten sie den Schatz rechtzeitig in Sicherheit bringen, das ist unstrittig. Und sie hatten damit auch Zeit genug, sich die tiefsten und sichersten Verstecke auszusuchen. Auch Gisors! Denn sie werden Gold und Silber nicht gerade in die Vorratskammer gelegt haben, sondern, sagen wir, in unterirdische Verliese, dreißig Meter unter der Oberfläche. Bewacht von Höllenhunden!«
»Kardinal, Ihr lest offenbar Ritterromane, diese neueste und nicht unproblematische Spielart der gelangweilten Unterhaltung bei Hofe und in den Klöstern.«
»Andere vermuten«, sagte der Kardinal ungerührt, »der Orden habe seine Reichtümer nach Portugal verbracht, in ihre Festung von Castro Marim an der südlichen Algarve. Denn auf der iberischen Halbinsel werden die Templer nur halbherzig oder gar nicht verfolgt – ist es nicht so? Man braucht ihre Kampfkraft und ihre Erfahrung aus dem Orient gegen die Mauren. Dort läge der Schatz also sicher.«
»Auch das ist Blödsinn!«, rief Imbert, der immer mehr die Geduld verlor. »Der Schatz muss noch in Frankreich sein! Er muss, er muss!«
»Ihr Herren«, warf ein Prior ein, »streiten wir doch nicht! Ich glaube nicht an einen solchen Schatz! Und wenn es ihn gäbe, wäre er dann nicht für uns Christen völlig unbedeutend? Sind unsere wahren Schätze, auf die wir uns berufen dürfen, nicht ausschließlich geistiger Natur?«
Imbert bedachte den Sprecher mit einem gehässigen Blick, der jedoch langsam wieder milder wurde. Der Generalinquisitor besann sich darauf, dass er es war, der den rechten Glauben an oberster Stelle zu vertreten hatte. »Nun«, sagte er, »Ihr habt Recht, mein Bruder, wir sollten unseren Eifer mäßigen. Aber bedenkt auch, dass man zur Ausrüstung eines neues Kreuzzuges viel Gold braucht. Und wollt Ihr den letzten Willen des verstorbenen Clemens missachten, der dafür unermüdlich durch die Länder zog, betete und sammelte? Wollt Ihr das?«
»Natürlich nicht! Gott bewahre!«
»Der Ketzer muss her!«, sagte Imbert mit hartem Gesicht. »Er muss uns sagen, was es mit dem Schatz der Templer auf sich hat!«
»Alle Qual und dann den Tod für diesen verfluchten Ketzer! Mein Gott, wenn er doch schon endlich hier wäre! In Ketten! Und wir könnten ihn, wir würden ihn dann…«
»Ja«, sagte Imbert leise.
10
Ende September 1315, Michaeliszeit
»Und ich sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in der Hand. Und er griff den Drachen, die alte Schlange, welche ist der Teufel und der Satan, und band ihn tausend Jahre und warf ihn in den Abgrund und verschloss ihn und versiegelte ihn, dass er nicht mehr verführen sollte die Heiden, bis dass tausend Jahre vollendet würden, und danach wird er kurze Zeit losgelassen.«
In der gewaltigen Kirche hallten die Worte der Offenbarung des Johannes wider wie von steinernen Gesetzestafeln. Kein Gläubiger zweifelte an ihnen. Und auch auf Henri de Roslin übte der Kampf des Engels gegen das Böse wie in jedem Jahr etwas Beruhigendes aus. Die Verehrung Gottes durch die Verehrung der Engel wirkte auf ihn wie ein Schutz, stärker, als Kettenhemd, Helm und Schwert es vermochten. Er stellte sich den Erzengel Michael vor, wie er über ihm schwebte und alles Böse von ihm fernhielt.
Henri betete inbrünstig und stumm darum, die richtigen Entscheidungen zu treffen, die richtigen Dinge zu tun. Er kniete an der Seite der anderen Gläubigen. Und doch trennte ihn alles von den Betenden. Und auch von ihren Priestern.