Denn diese gehörten zu seinen Verfolgern, und er durfte sich ihnen nicht offenbaren. Sie würden die Boten Gottes selbst jetzt, in der Zeit der Michaelisfeste, nicht wirklich erkennen, dachte er, und auch diesen Erzengel nicht, der auf dem Berg Gargano erschienen ist, um seitdem leibhaftig in der Welt zu sein. Sie tun nur so, als beteten sie zu ihm. Und wem sie danken, das wissen sie auch nicht.
Er schlug das Kreuz und erhob sich aus seiner knienden Position.
Henri de Roslin hatte schwere Tage hinter sich. Seine Gefährten, die jetzt draußen vor den Toren Perpignans darauf warteten, dass er vom Michaelisgebet zurückkehrte, machten ihm Vorwürfe. Es war nicht das erste Mal, dass sie seine Meinung nicht teilten, aber diesmal war es schwerwiegender. Und Henri fragte sich inzwischen selbst, ob er es verantworten konnte, Ferrand de Tours als Gefangenen nach Avignon zu bringen, um ihn vor den Richter zu stellen.
Die Gefahren, die er dabei für sich in Kauf nahm, waren für ihn selbstverständlich. Aber durfte er auch seine Freunde gefährden? Zweifellos lauerten in der Papststadt, die Henri als gelbe Bestie mit ausgefahrenen Krallen in Erinnerung behalten hatte, mannigfache Gefahren auf sie.
Uthman wurde als Giftmischer und Mörder des Papstes gesucht. Der Tod war ihm bei seinem Ergreifen sicher. Joshua hatte das tödliche Spiel mit dem Papst Clemens angezettelt. Auch er würde nicht davonkommen. Und Henri selbst war inzwischen der gesuchteste und gehassteste Mann Frankreichs. Die Inquisition wartete sehnsüchtig auf ihn. Guillaume de Imbert würde alles darum geben, ihn in seine Gewalt zu bekommen. War es also nicht Wahnsinn, nach Avignon zu reiten?
Es war Wahnsinn. Und doch, Henri wollte nicht die Spielregeln seiner Feinde übernehmen. Er wollte mit Ferrand de Tours nicht so menschenverachtend verfahren, wie dieser mit ihm verfahren hatte. Henri war erfüllt von der Vision eines gerechten Prozesses gegen den Verleumder, der sich zu seinem persönlichen Feind aufgeschwungen hatte.
Henri de Roslin schüttelte unwillkürlich heftig den Kopf.
Es musste in Avignon noch unabhängige Richter geben. Es musste Ordnungskräfte geben, die gegen die Verleumdung der Juden vorgingen. Denn schließlich war dieses Jahr des Herrn 1315 das Jahr der Rehabilitation der Juden in Frankreich. Sie durften zurückkehren. Und sie kamen inzwischen in Scharen aus Verbannung und Exil zurück, ihre Diaspora war beendet.
Man brauchte ihren Gewerbefleiß, ihre Kultur, ihr Geld. Ein Judenhasser, der zu neuen Pogromen aufrief, würde in diesen Tagen kein Gehör finden.
So hoffte Henri.
Aber in den Gesichtern seiner Gefährten las er, dass sie diese Hoffnung für unsinnig und für gefährlich hielten. So traten Uthman, Joshua und die beiden jungen Sarazenen bei seinem Kommen aus dem Waldstück unweit der Stadtmauer Perpignan, das sie vor fremden Blicken geschützt hatte, und begrüßten ihn mit allen Anzeichen des Missmutes.
»Hat der Erzengel Michael dir in der Kirche einen Hinweis gegeben, Henri?«, fragte Joshua. Er konnte nicht vermeiden, dass seine Stimme einen spöttischen Unterton annahm.
Henri überhörte es nicht und sah den Freund traurig an. »Du solltest wissen, dass wir solche direkten Ratschläge von den Engeln nie bekommen, mein Freund. Wir wollen sie zwar hören, aber sie werden uns verweigert. Wir müssen letztlich aus eigener Entschlusskraft handeln.«
»Und du bleibst bei deinem Entschluss?«
Henri sah zu ihrem Gefangenen hinüber, der rücklings an einem Baumstamm saß. »Wir werden Ferrand in Avignon vor ein Gericht stellen. Man wird ihn verurteilen.«
»Du brauchst ein reines Gewissen, was?« Uthman machte eine verkniffene Miene. »Mir wird mit jedem Tag klarer, dass du einer Wahnvorstellung hinterher jagst, Henri de Roslin. Hast du noch nicht genug gesehen vom Zustand der Verwahrlosung in diesem Land? Wer soll dir Gehör schenken, wenn du diesen da anklagst? Was ist los mit dir?«
Henri blickte ihn offen an. »Ich will nicht fragen müssen, ob du Angst hast, nach Avignon zu gehen, Uthman! Ich will nicht fragen, ob du Angst davor hast, in die Stadt deiner Feinde zurückzukehren. Ein Kämpfer wie du, in vielen Schlachten erfahren!«
»Dann frag mich auch nicht. Denn es wäre eine Beleidigung für mich.«
Joshua schüttelte nun seinerseits traurig den Kopf. »Ist es dieser Mann dort wert, dass wir uns zerstreiten, meine Freunde? Schaut ihn euch an! Ist er nicht die Erbärmlichkeit selbst? Einst arrogant und gefährlich, jetzt ist er nur noch ein Häufchen Elend und Ängstlichkeit. Für wen lohnt es sich also, dass wir uns streiten?«
»Es geht nicht um Ferrand, Joshua«, sagte Henri milde. »Und das weißt du. Es geht um die Gerechtigkeit. Wenn wir so sind wie alle anderen, dann geht dieses Land zugrunde. Nein, wir müssen ein Zeichen setzen! Wenn wir eine neue Welt nach all den Lügen und Verleumdungen, nach den Verfolgungen, mit einem Wort nach Clemens und Philipp, gründen wollen, dann müssen wir auch mit dem alten Unrecht brechen und neu anfangen!«
»Mit Fehlern, mein Freund?«
»Ist es ein Fehler, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen? Wir treten in das Zeitalter der unabhängigen Gerichte ein, die nicht nach Standesdünkel und Faustrecht, nicht nach Repressalien, Vorurteilen und kleinlichem Gewinn aburteilen, sondern nach Vernunft und Gesetz!«
»Ihm ist nicht zu helfen, Joshua«, seufzte Uthman, »seine Erziehung im Tempel hat offenbar mehr Unheil in seinem Kopf angerichtet, als wir befürchtet haben. Henri ist und bleibt ein heiliger Idealist. Er hat nichts gelernt aus all dem Unrecht, das ihm selbst widerfahren ist und allen seinen Tempelbrüdern!«
»Hast du wirklich alles vergessen? Das kann doch nicht sein, Henri!«
»So ist es auch nicht. Ich habe viel gelernt. Und eine Lehre ist dabei besonders kostbar: Freiheit muss auch die Freiheit der anderen sein, mögen sie noch so falsch sein, wie beispielsweise Ferrand es zweifellos ist. Auch unsere Feinde haben ein Recht darauf, als Menschen behandelt zu werden! Und auch wir können irren!«
Joshua sah ihn fest an. »Ich dagegen sage: keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! So steht es schon in der Bibel!«
»Wenn Ferrand in Toledo Erfolg gehabt hätte«, giftete Uthman ungestüm, »dann würde das Judenghetto, die Aljama, jetzt in Schutt und Asche liegen, und Hunderte wären erschlagen! Und ein Mensch wie dieser dort ginge über all die geschändeten Leichen und lachte laut!«
»Das weiß ich«, antwortete Henri, bei jedem Satz ruhiger und sicherer werdend, »aber so kam es nicht. Wir konnten es mit Gottes Hilfe vereiteln. Sicher können wir Ferrand de Tours auch erschlagen wie einen Hund. Aber dann wird er zu einer Art Märtyrer für hasserfüllte Christen werden. Er würde umso mehr Nachfolger finden. Wir aber werden ihn öffentlich anklagen und damit seine Erbärmlichkeit zeigen. Und alle werden begreifen, dass Hass und Vorurteile, wie Ferrand sie verkörpert, einer vergangenen Zeit angehören, die nie mehr wiederkehren darf! Die Erdenscheibe wird kleiner. Und wir müssen zusammenrücken. Wir kommen nur miteinander aus, wenn wir versuchen, uns gegenseitig zu achten, auch wenn wir ganz anderer Meinung sind. Die Zeit, wo man sich mit Waffen holte, was man brauchte oder auch nur begehrte, ist vorbei. Was wir brauchen, ist einfach ein anderer Umgang miteinander. Damit wollen wir anfangen. Und nun sitzt auf. Wir reiten nach Avignon!«
Henri griff grob nach seinem Gefangenen, warf ihn vor sich über sein Pferd, wendete Barq, fasste seine Freunde noch einmal ins Auge – und galoppierte davon.
Er drehte sich nicht mehr um, er wusste, die Gefährten folgten ihm. Sie teilten seinen bewusst übertriebenen Friedensappell nicht, aber sie waren ihm treu ergeben. Ja, er hatte übertrieben, denn er wusste genau, dass er in der vor ihm liegenden Zeit rücksichtsloser und gewaltsamer, als ihm lieb war, mit jenen Kräften abrechnen musste, die durch ihre Lügen und Intrigen gegen den Frieden Gottes hetzten. Es ging nicht mehr gegen Papst und König, die den Tempel verfolgt hatten. Es ging gegen Mächte, wie Ferrand sie verkörperte, Mächte des Bösen, der Dummheit, der Unduldsamkeit, die im anderen Menschen immer nur den Feind wahrnahmen. Und bei diesem Kampf würden seine Gefährten an seiner Seite stehen.