Im 12. Jahrhundert wirkten weiterhin bedeutende jüdische Gelehrte. Philosophie und Mystik, aber auch die anderen Wissenschaften blühten. Unter König Alfons X. (Kg. 1252-1282) stieg die Übersetzerschule von Toledo – deren Personal in dem Roman vollkommen fiktiv ist – zu großer Bedeutung auf. Hier wurde das islamisch-jüdische Wissen der christlichen Gelehrtenwelt zugänglich gemacht und strahlte aus nach ganz Europa. Die Kabbala, eine mystische Deutung der fünf Bücher Mose, erlebte im 13. Jahrhundert mit dem 1291 von Moses Bar Shem Tov de Leon verfassten »Sohar« (Buch des Glanzes) ihren Höhepunkt. In diesem Jahrhundert wirkten auch die Bibelkommentatoren Mose ben Nachman (Nachmanides, um 1195-1270) und Bahja ben Ascher (um 1260-1340), die wesentlichen Einfluss auf die spätere Zeit hatten. Doch mussten diese Gelehrten auch inszenierte Demütigungen ertragen. In Barcelona wurde 1263 eine öffentliche Religionsdisputation abgehalten, in der sich Nachmanides dem zum Christentum übergetretenen Pablo Christiani stellen musste. Das öffentliche Gespräch endete ohne fassbares Ergebnis, wenn auch beide Seiten sich nachher als Sieger sahen. Der einzige Zweck dieser und ähnlicher Veranstaltungen nicht nur in Spanien war christlicherseits der »Beweis« der Unterlegenheit des Judentums. Von vornherein hatten diese Gespräche kein anderes Ziel als die Demütigung der Juden. Für Nachmanides hatte die Disputation von 1263 noch Folgen. Wegen seines darüber aufgesetzten Protokolls, in dem sich angeblich Angriffe gegen das Christentum fanden, wurde er angeklagt. Doch er entzog sich dem Urteilsspruch, indem er sich auf eine Pilgerreise nach Jerusalem begab. Den Rest seines Lebens verbrachte er im Heiligen Land.
Im muslimisch beherrschten Spanien konnten die Juden nach einer Beruhigung der Verhältnisse im Anschluss an die Kampfphase der almoravidischen Eroberung einige Jahrzehnte der Ruhe genießen. Das geistige Leben blühte wieder auf. Doch als die berberische Sekte der Almohaden unter Abd al-Mu’min 1146 die Almoraviden ablöste, setzte diese die Islamisierung mit aller Gewalt durch. Dies hatte natürlich nicht nur Scheinübertritte zum Islam zur Folge, sondern auch eine Massenflucht. Die christlichen Reiche Spaniens nahmen die Flüchtlinge auf. Unter diesen befand sich auch Mose ben Maimon, genannt Maimonides (1135-1204). Sein 1168 abgeschlossener Mischna-Kommentar machte ihn zu einer Autorität. Mit seiner »Mischne Tora« (Wiederholung der Lehre), einem vierzehnbändigen Werk, das die rabbinische Gesetzgebung systematisierte, verband er die Hoffnung, den Talmud ersetzen zu können. Dies geschah allerdings nicht, wenn auch die »Mischne Tora« für das Talmud-Studium wichtig wurde. Auch die bedeutendste religionsphilosophische Schrift des jüdischen Mittelalters, die den Titel »Führer der Verwirrten« (More Nevuchim) trägt, ist ein Werk des Maimonides. Sie sollte weit über die jüdische Welt hinaus Interesse finden. In der christlichen Gelehrtenwelt wurde diese Schrift unter dem lateinischen Titel »Dux neutrorum« bekannt. Durch die Flucht weiterer Gelehrter gelangten die Erkenntnisse jüdisch-islamischer Gelehrsamkeit auch ins christliche Europa. In Spanien selbst kamen die Wissenschaften durch das ungünstige, dem forschenden Geist entgegenstehende religiöse Klima unter der Almohaden-Herrschaft nahezu vollständig zum Erliegen. Dies zeigt sich auch in einem Umschwung in der verwendeten Sprache. Hatten die jüdischen Gelehrten bis dahin ihre Werke in arabischer Sprache verfasst, so begannen sie nun, Hebräisch zu schreiben.
Das 13. Jahrhundert sah in Spanien die großen Erfolge der Reconquista. Im Jahr 1212 erlitten die Almohaden eine schwere Niederlage bei Navas de Tolosa, dann fiel Cordoba 1236 in christliche Hand, Murcia wurde 1241 erobert und Sevilla 1248. Der islamische Einflussbereich beschränkte sich von nun an allein auf das Königreich Granada. Die Juden Spaniens hatten sich mit der christlichen Herrschaft abzufinden.
Auch außerhalb Spaniens war die Geschichte der Juden zumeist von Repressalien bestimmt. Im 7. Jahrhundert hatte der merowingische König Dagobert I. (Kg. 628-637) versucht, die Juden zur Annahme der Taufe zu zwingen oder sie auszuweisen. In den folgenden beiden Jahrhunderten konnte sich das jüdische Leben aber vor allem in den Hafenstädten Frankreichs erholen. Auch hier lag in dieser Zeit der Fernhandel weitgehend in den Händen von jüdischen Kaufleuten. Wie eng auch hier die Beziehungen zwischen Juden und Christen bis in die Zeit der Karolinger hinein waren, zeigt sich an den wiederholten Bemühungen der Kirche, diese zu unterbinden. Die Synoden stellten die Mahlgemeinschaft von Juden und Christen immer wieder unter Strafe, ein deutliches Zeichen dafür, dass diesen Vorschriften nicht nachgekommen wurde. Bischof Agobard von Lyon (779-840) tat sich in seinen Schriften ganz besonders als Judenfeind hervor. Dem trat aber Kaiser Ludwig der Fromme (Ks. 814-840) entgegen, und auch Karl der Kahle (Ks. 875-877) unterband solche Bemühungen. Die Kaiser und Könige hatten die Juden unter ihren Schutz genommen und verteidigten sie auch gegenüber der Kirche. Dieses Interesse der Könige rührte natürlich von den nicht unwesentlichen Abgaben her, die von den Juden für diesen Schutz zu entrichten waren. Im 11. Jahrhundert kam es in Frankreich zu ersten Pogromen. Als im Jahr 1010 Kalif al-Hakim (Klf. 996-1021) die Grabeskirche in Jerusalem zerstören ließ, wurden die Juden der Mithilfe bezichtigt, was zu Ausschreitungen an der Loire und in Rouen führte. Lyon war 1049 Schauplatz eines Pogroms mit zahlreichen jüdischen Opfern. Auch kam es im Jahr 1063 zu Übergriffen, als Söldner für den Kampf gegen die Muslime in Spanien durch Frankreich zogen. Wenn also auch das Leben der Juden unsicher war, so konnte sich doch in Frankreich das Geistesleben voll entfalten. Die Stadt Troyes brachte mit Salomo ben Isaak (1040-1105), besser bekannt unter dem Namen Raschi, den bedeutendsten Kommentator des babylonischen Talmuds hervor. Seine Jeschiva in Troyes erlangte großes Ansehen.
Auf dem Gebiet des Deutschen Reiches hatten sich größere jüdische Gemeinden vor allem in den großen rheinischen Städten (Speyer, Worms, Mainz, Bonn, Köln) angesiedelt. Zu nennen sind aber auch die Gemeinden von Hameln, Hildesheim und Magdeburg sowie von Regensburg. Besonderes Interesse an der Ansiedlung von Juden hatten die Bischöfe, da sie als deren Schutzherren über die fälligen Abgaben direkt verfügen konnten. Auch war der jüdische Geldverleih eine willkommene Möglichkeit für die geistlichen und weltlichen Herren, ihre oft leeren Kassen wieder zu füllen. Jüdisch-christliche Kontakte waren im Deutschen Reich, ähnlich wie zur gleichen Zeit in Frankreich, selten. Die jüdischen Gemeinden lebten daher weitgehend unter sich, wenn es auch noch keine wirklichen Ghettos gab.