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»Sie erinnern mich an ein Bild, das ich mal gesehen habe«, warf ich ein, um das inzwischen etwas drückende Schweigen zu brechen. »Die Interpretation eines Malers von Queepeg aus Moby Dick. Die tätowierten Wangen …« Ich glaube, mein Versuch, ein oberflächliches Geplauder zu beginnen, ging unter wie ein Stein. Ich konnte keine Veränderung seines Augenausdrucks erkennen. Die Augen waren das einzig Stabile an ihm, denn der Rest seiner Gesichtszüge schimmerte und zerfloß, waberte und bildete sich neu.

»Ich bin da drunter kahl«, bemerkte er. Er meinte seinen Hut. »Kahl und tätowiert. Ich rasiere mir nicht den Kopf, sondern ich zupfe die Haare aus, wie es die Indianer gemacht haben. Es tut weh, aber dafür ist es irgendwann vorbei.« Er hielt inne. Dann fuhr er fort: »Ich habe Ihnen im Brief davon erzählt.«

»Sie schrieben, Sie hätten sich Tätowierungen zugezogen wie der Tote, den wir in Vietnam sahen.« Ich war nicht ganz sicher, was er mit ›zugezogen‹ überhaupt meinte.

»Yeah. Sie … haben Sie das Foto dabei?«

Ich nickte und zog den Umschlag aus meiner Tasche. Er griff begierig danach und nahm das Foto heraus. Es war das Bild, das ich vom verbrannten Vietnamesen in der Höhle aufgenommen hatte. Oder besser, eins der Bilder.

»Yeah, das ist er«, sagte er zufrieden. »He, sehen Sie mal.« Er zog den Ärmel hoch und zeigte mir seinen Arm, der völlig mit bunten Symbolen bemalt war. Die Haut verschwamm vor meinen Augen.

»Sehen Sie, ich hab’s mir richtig gemerkt. Können Sie sich das vorstellen? Ich hab’s irgendwie aus dem Kopf nachgemacht.« Er tippte sich an den Schädel. »Habe sie exakt kopiert, und ich brauchte nicht einmal drüber nachzudenken.«

Er hatte die Symbole tatsächlich genau getroffen. Sie hatten sich offenbar unauslöschlich in sein Unterbewußtsein eingebrannt. Etwas hatte ihn veranlaßt, diese Zeichen aus dem Kopf zu Papier zu bringen und von dort aus auf seinen Körper übertragen zu lassen. Man konnte sagen, daß er innerlich schon vor langer Zeit tätowiert worden war, und daß die Zeichen nur eine Weile gebraucht hatten, bis sie auf die Haut durchgeschlagen waren.

»Woher sind die anderen gekommen?« fragte ich.

»Was?«

»Nun ja, Sie haben damals nur einen Arm und ein Stück von der Brust gesehen. Wie sind Sie an die Vorlage für den Rest Ihres Körpers gekommen?«

»Es ist ein Muster«, erwiderte er, indem er vom Foto aufblickte. »Es wiederholt sich.«

»Oh.«

»Sind Sie bereit?«

»Kann losgehen«, sagte ich. Er hatte es im Brief erklärt: Ich sollte ihn vor einem Hintergrund aus Gras oder Bäumen oder Felsen in einer natürlichen Umgebung fotografieren.

Wir fuhren mit dem Taxi zum Central Park. Unterwegs sprachen wir über seine Entdeckung, ohne uns vom neugierigen Taxifahrer, der immer wieder in den Rückspiegel blickte, stören zu lassen.

»Eines Nachts wurde es mir klar«, erklärte er. »Es war schon nach Mitternacht. Der Scharfschütze damals war ein schießwütiger Cajun mit Adleraugen. Er schoß auf Nebelschwaden, auf Farne, die im Wind schwankten, auf ein fallendes Blatt, und ich hatte noch nie gesehen, daß er verfehlt hatte. Wenn der Bursche geschossen hat, konnten wir danach immer Leichen zählen. Ich fragte mich, worauf er an jenem Tag geschossen hatte. Ich weiß noch, daß wir ihn damals fragten, und er sagte: ›Ein Geruch. Ich habe den Schatten gerochen.‹ Der Bursche war von daheim daran gewöhnt, im Zwielicht in den Bayous zu jagen. Er war der beste Schütze, den ich je kennengelernt hatte. Und ich dachte, Mann, wenn dieser Cajun den Mann nicht gesehen hat, dann muß der Bursche sich in einem Baum versteckt haben. Und dann kam ich auf die Idee …«

Wir erreichten den Park und schickten das Taxi weg. Es wurde langsam Abend, und die meisten Büroangestellten waren auf dem Heimweg. Einige Leute waren im Park unterwegs, aber es gelang ihm, eine Stelle zwischen den Bäumen zu finden, wo wir ungestört waren. Ich bekam dort eine Heidenangst. Es war genau die Gegend, in der der Mord passiert war. Ich wollte es nur noch schnell hinter mich bringen und ins Roosevelt zurückkehren.

Er begann sich auszuziehen und redete weiter, während ich ihn knipste.

»Die perfekte Tarnung«, sagte er. »Die Männer im alten Vietnam – ich meine vor wirklich langer Zeit – verstanden etwas davon. Wahrnehmung. Nur darauf kommt es an. Dieser Vietcong, den wir verbrannten – er muß es in einem alten Buch gefunden oder ein Bild auf einer Höhlen- oder Tempelwand gesehen haben.«

»Vielleicht war er überhaupt kein Nordvietnamese«, warf ich ein, während meine Kamera unablässig klickte.

»Kann sein, kann sein. Wie auch immer, er kannte das Geheimnis – das Geheimnis der perfekten Tarnung. Früh in der Geschichte müssen die Herrscher der alten Königreiche – sie müssen solche Männer benutzt haben – Meuchelmörder. Und jetzt ich, und ich weiß … ich glaube, es wirkt nur, wenn der ganze Körper bedeckt ist – ist es nur ein Teil, ein Arm oder ein Bein, dann gibt es einen Effekt, aber eben nicht die vollständige Tarnung, nicht das vollkommene Verschmelzen mit dem Hintergrund, bis der tätowierte Mann mit bloßem Auge nicht mehr wahrnehmbar ist. Erinnern Sie sich an die Schlangen in Vietnam? Die konnte man auch erst sehen, wenn man beinahe schon draufgetreten war, selbst wenn man sie direkt anstarrte. Diese Tarnung hier ist sogar noch wirkungsvoller. Sie verdeckt auch Bewegungen. Die Künstler, die das erfunden haben, müssen es im Laufe von Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden perfektioniert haben. Sie müssen die Geschöpfe des Waldes studiert und eine Wissenschaft von Licht und Schatten erfunden haben, vom empfindlichen Gleichgewicht zwischen Zeichen und freier Stelle … Mann, das waren Genies. Können Sie es sich vorstellen? Steinzeitleute, die Farben aus Blumen und Blättern gewannen und in den Flüssen nach farbigen Tonsorten gruben, die dieses und jenes probierten, bis eines Tages – Bingo! – der perfekte Jäger …«

Nach einer Weile war er nur noch eine körperlose Stimme, die vor mir irgendwo zwischen den Bäumen sprach. Seine Kleidung lag als unordentlicher Haufen auf dem Boden. Ich machte Fotos, sah aber nichts als Bäume. Ich bekam eine Gänsehaut, und als einmal irgendwo links von mir ein Zweig knackte, hätte ich beinahe geschrien. Auch so sprang ich noch zwei Schritte zurück. Ich war fast besinnungslos vor Angst.

»Sind Sie noch da?« Ich weiß nicht, warum ich auf einmal flüsterte.

Ich bekam keine Antwort. Ich versuchte, die länger werdenden Schatten zu beobachten und zwischen ihnen eine Bewegung zu erkennen. Die Gesetze von Licht und Dunkelheit konnte er nicht aufheben, das war klar. Ich achtete auf ein Flackern, auf den dunklen Umriß eines Mannes auf dem Laub, aber ich war nicht sicher. Dann bemerkte ich etwas aus den Augenwinkeln und fuhr wieder auf, aber es schien nur der Wind zu sein, der über das Gras wehte. Mein Herz pochte rasend schnell, mein Blut rauschte durch meine Adern, und wenn ich nicht aufpaßte, würde ich Dinge zu sehen beginnen, die mit Sicherheit nicht da waren.

Ich erinnerte mich an den Rest des Artikels über den Mörder, der den Vergewaltiger in diesem Park und vielleicht sogar an genau dieser Stelle getötet hatte. Keiner der Zeugen hatte den Täter gesehen, nicht einmal die Frau, die gerettet worden war. Alle wußten, daß jemand da war, aber die Zeugen hatten ihn eher gespürt als gesehen. Ein Gespenst, ein Phantom, nur als flüchtiger Schatten in der Abenddämmerung auszumachen.