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Plötzlich fiel mir ein, daß in diesem Augenblick wahrscheinlich nur noch zwei Menschen lebten, die den Vorfall mit dem tätowierten Vietnamesen in der Höhle gesehen hatten. Stellte ich eine Gefahr für ihn dar, weil ich außer ihm selbst der zweite war, der es miterlebt hatte? Plötzlich spürte ich einen warmen Hauch auf der Wange. Ich roch den schalen Atem eines Menschen. Ich drehte mich um, rannte weg und schrie wie ein Irrer aus Leibeskräften: »Nicht, tun Sie das nicht, tun Sie das nicht, tun Sie das nicht …«

Als er, wieder angezogen, am Ausgang des Parks zu mir aufschloß, hatte ich mich wieder gefaßt.

»Das war aber dumm«, sagte er. Er lächelte dabei schief, als wäre dies die erste amüsante Begebenheit in der ganzen Geschichte.

»Ich will es mal so sagen«, antwortete ich und kam mir ziemlich dumm vor. »Ich habe immerhin eine gute Entschuldigung. Es ist mir egal, ob wissenschaftliche oder übernatürliche Gründe dahinterstecken, aber ich bin einfach nicht daran gewöhnt, daß vor meinen Augen Männer einfach verschwinden.«

Er grunzte, dann griff er in die Tasche seiner Kampfjacke und zog ein Notizbuch heraus. Er gab es mir.

»Was ist das?« fragte ich.

Er sah mich mit schwarzen, kalten Augen an.

»Das ist mein Tagebuch. Da drin finden Sie alles, was Sie brauchen, wenn Sie den Artikel schreiben.«

»Den Artikel schreiben?«

»Ja, aber warten Sie noch einen Monat, ehe Sie ihn irgendwo anbieten. Die Geschichte wird bis dahin noch größer sein.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Nein, tun Sie nicht«, erwiderte er schroff. »Noch nicht, noch nicht.«

Wir verließen den Park und gingen im Strom der Menschheit auf dem Gehweg auf. Bevor er sich verabschiedete, hielt er mich mit kräftigem Griff am Arm fest. Der New Yorker Verkehr strömte an uns vorbei, überall um uns der Lärm und das Getriebe der Stadt. Die Leute stießen uns an, weil wir ihnen den Weg versperrten.

»Hören Sie«, sagte er, »was halten Sie von der Idee des neuen Präsidenten, Militärberater nach Thailand zu schicken?«

»Was halten Sie davon?«

Er starrte nach oben, wo die Häuser im abendlich düsteren Himmel um Licht und Raum kämpften.

»Ich habe einen achtzehnjährigen Sohn, der zum College geht«, sagte er.

Zwischen den Gebäuden, inmitten der Menschen, fühlte ich mich sicherer. Ich schleuderte ihm meine Anklage entgegen.

»Dann werden Sie also den Präsidenten töten, wie Sie den Vergewaltiger töteten?«

Seine Antwort kam völlig unerwartet.

»Wir haben entschieden, daß das höchstwahrscheinlich nicht nötig ist«, sagte er. Dann verschwand er. Er eilte, die Hände tief in die Hosentaschen gesteckt, über den Gehweg davon. Ich sah dem verknitterten Hut nach, bis er im Gedränge verschwand, dann fuhr ich mit einem Taxi ins Hotel zurück.

In meinem Zimmer im Roosevelt angelangt, zog ich sein Notizbuch aus der Tasche. Es verriet mir kaum etwas, das ich nicht schon wußte.

Vor allem erfuhr ich nichts über den schockierenden Plural, den er mir als Abschiedsgruß zurückgeworfen hatte. »Wir haben entschieden …« Wer, zum Teufel, waren sie?

An diesem Abend ging ich aus und betrank mich.

Am nächsten Morgen mietete ich eine Dunkelkammer und entwickelte die Fotos, die ich im Park aufgenommen hatte. Ich starrte die Abzüge noch Stunden danach bei allen möglichen Lichtbedingungen an und fand natürlich nichts außer Bäumen, Gras und Schatten. Viele Schatten. Er war dort irgendwo, aber ich konnte ihn nicht sehen, und ich bezweifelte, daß irgend jemand sonst ihn sehen konnte. Ich nahm an, er wollte, daß ich sie zusammen mit dem Artikel veröffentlichen sollte, den ich ihm versprochen hatte. Aber wie soll man beweisen, daß man Fotos eines Unsichtbaren aufgenommen hat? Die Sache war lächerlich. Er war einfach eitel. Man konnte ihn beim Ausziehen noch sehen, da war er ein tätowierter Mann, der aus der Hose stieg, aber sobald er die Kleider abgelegt hatte, war er verschwunden.

Es ist wohl so ähnlich, als würde man einem Tiger ein rotes Halstuch umlegen und ihn in seinen natürlichen Lebensraum setzen. Das Tuch hilft, das Tier zu finden, und man kann sogar zwischen den Schatten und im Blattwerk den Umriß des Tieres erkennen. Erst wenn man nicht mehr genau weiß, nach welchem Umriß man suchen muß – aufrecht, gebückt, gekrümmt, gehockt –, kann die Tarnung ihren Zauber entfalten.

In diesem Fall handelte es sich nicht um eine natürliche Form der Tarnung wie beim Tiger oder bei der Zeichnung einer Bergschnepfe. In diesem Fall war die Tarnung das Ergebnis einer von Menschen vervollkommneten Wissenschaft oder Kunst. Die Tätowierungen des Veteranen waren gegenüber den Streifen des Tigers das, was Raketentriebwerke gegenüber den Schwingen einer Möwe waren.

Ich packte meine Sachen, weil ich so bald wie möglich nach Kalifornien zurück wollte, nach Hause. Oder sollte ich für eine Weile lieber gleich nach Großbritannien gehen? Irgendwohin, nur möglichst weit von Washington entfernt.

Ich dachte daran, die Polizei anzurufen, aber dann besann ich mich. Es war überhaupt nicht sicher, ob die Polizei mir geglaubt hätte, aber die Medien hätten mit Sicherheit davon Wind bekommen, und die waren alles andere als zimperlich. Die Presse liebte solche Geschichten: tätowierte Männer, unsichtbare Mörder, Selbstjustiz im Park, Drohungen gegen den Präsidenten. Wenn die Geschichte bekannt wurde, war damit zu rechnen, daß sie aufgeblasen wurde, bis es um Vietnamesische Agenten in New York und Hypnotisierte Veteranen als Mordmaschinen ging. Ich sah schon die Schlagzeilen vor mir: MANDSCHURISCHER MASSENMÖRDER GEFASST. Der Präsident hätte seinen Beweis, und Menschen mit asiatischen Gesichtszügen würden sich nicht mehr auf die Straße trauen.

Ich wollte vergessen, was ich gesehen hatte, oder besser, was ich nicht gesehen hatte. Ich wollte mein Versprechen, die Geschichte zu veröffentlichen, brechen. Die Argumente, die ich benutzte, um meine Position zu verteidigen, waren eher dünn. Ich war Fotograf. Ich dokumentierte Ereignisse. Ich griff nicht ein. Ich bezog nicht Stellung. Ich war wie ein Priester oder ein Anwalt oder ein Arzt. Ich hatte auf Vertraulichkeit meinem Kunden gegenüber zu achten.

Es war dumm gewesen, überhaupt herzukommen. Es war dumm von ihm gewesen, mich zu fragen. Ich glaube, die alte Verbindung aus Vietnam war stark, denn sonst hätte er nicht gefragt, und ich wäre nicht gekommen. Seine Vorstellungen von der Realität mußten sich in den letzten Monaten erheblich verändert haben.

Vielleicht hatte er es für nötig gehalten, ihre Gültigkeit mit der Hilfe eines Mannes, der dort gewesen war und das gleiche gesehen hatte wie er, auf die Probe zu stellen. Inzwischen zerkrümelte auch meine Vorstellung von der Realität.

Irgendwo tauchte zögernd ein neuer Gedanke auf: Die Idee, daß er vielleicht nicht der einzige war. Es war ein langer Krieg gewesen, in dem viele nie erzählte Dinge geschehen waren. Vielleicht war unser Erlebnis gar nicht so einzigartig? Wie auch immer, nichts konnte ihn davon abhalten, sein Geheimnis jemand zu verraten. »Wir haben entschieden, daß das höchstwahrscheinlich nicht nötig ist …«

Ich weiß nicht, wie viele von ihnen dort draußen unterwegs sind und still und unsichtbar durch Wälder und Felder und Hügel und Täler huschen. Vielleicht nur einer, vielleicht tausend. Vielleicht noch mehr. Vielleicht sind es viele, vielleicht haben sie die Gebiete außerhalb der Städte und Siedlungen und die Parks schon längst übernommen, vielleicht ist das offene Land eine Unterwelt geworden, die sich unserer Kontrolle entzieht. Wir können es nicht wissen. Vielleicht muß man sogar an das Äußerste denken. Vielleicht sollte man nicht mehr sagen, daß es tätowierte Männer im Land gibt, sondern, daß wir schon längst im Land der tätowierten Männer leben.