Ich kam unvermittelt wieder zu mir. Serracord zupfte mich am Ohrläppchen. Der Club war auf einmal halb leer. Hugh, der Barkeeper, ließ die Rolladen herunter. Hatten wir so lange getanzt? Außer uns waren nur noch zwei Gruppen auf der Tanzfläche; eine Dreiergruppe aus zwei Männern in Anzügen und einem Shi’an, und eine Frau mit einem männlichen Shi’an, der ein prachtvolles zeremonielles Tanzkostüm trug.
»Was ist?« rief ich durch den Lärm der Musikanlage hindurch. Serracord hob meine Hand und tippte auf die Armbanduhr.
»Es ist spät.«
»Ach, wirklich?« Und ich dachte, mein Gott, nein, jetzt ist alles aus, jetzt stehen wieder Sack und Asche an, wie im Märchen vom Aschenbrödel.
»Nun, Mr. Erdmann«, sagte der Alien, beugte sich auf mich herunter und flüsterte mir ins Ohr, »nun, Mr. Welshman, möchten Sie mit zu mir kommen?«
Zu dieser späten Stunde herrschte eine nahezu heilige Stille. Serracord bezahlte das Taxi – eine schwule Minicab-Firma, bei der man sich auf Diskretion verlassen konnte –, und ich lauschte auf die Stille, die es hinter sich zurückließ. Ich spürte, wie die Stadt atmete und vor sich hin murmelte wie jemand, der sich im Schlaf auf die andere Seite wälzt. Ich hatte genug Bier und Musik im Blut, um mich gleich mehrfach lebendig zu fühlen.
Serracords Wohnung lag über einer jüdischen Bagel-Bäckerei in der Salmon Lane. Der Laden hatte überlebt, obwohl seine Kunden längst fortgezogen waren. Irgendwann würde auch er verschwinden. Das Angebot des Ladens war nicht nach dem Geschmack der Shi’an, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der letzten Einwanderungswelle angehörten, welche die Straßen von Limehouse in Besitz genommen hatte. Ihre weitverzweigten Schwesternschaften – Familien, die irgendwo zwischen einem Clan und einem Club angesiedelt waren – sind überwiegend Selbstversorger. Sie sind kein Volk von Käufern und Verkäufern.
Serracord war ein Freischwimmer außerhalb des Netzes der Schwesternschaft.
»Meine Wanderjahre«, erklärte der Shi’an, schaltete die Microanlage ein und wandte sich zum Kühlschrank, um Getränke zu holen. Das kalte blaue Licht ließ die fremdartigen Gesichtszüge des Wesens in einer Weise hervortreten, daß mir der Hodensack davon prickelte. Wir waren hier, um miteinander zu schlafen. Einen anderen Grund für die Einladung in die Wohnung über dem Bagel-Shop gab es nicht. Mir war schwindelig. Ich hatte Angst. Ich wollte weglaufen, doch etwas Stärkeres hielt mich auf meinem Platz am Fenster fest, von dem man auf die Salmon Lane hinunterblickte. Serracord brachte zwei Flaschen importiertes Lager mit und setzte sich mir gegenüber. Die Straßenlaternen beleuchteten jeweils eine Gesichtshälfte von uns, die andere lag im Schatten. »So ist das bei uns üblich. Wenn wir heranreifen, verlassen wir die Familie, in die wir hineingeboren wurden, und reisen umher, besuchen fremde Orte, schauen uns um, begegnen Fremden, lernen die Lust kennen, verlieben uns und hören wieder auf zu lieben, wie die Phasen kommen und gehen, und dann suchen wir uns einen neuen Ort, an dem wir uns niederlassen. Wir sind ein Volk von Jägern, ein Volk der weiten Ebene. Deshalb besiedeln wir auch andere Welten: Wanderjahre eines Volkes. Ich befinde mich zwischen den Welten.«
Ich stellte mir vor, was dies konkret bedeutete. Ich dachte an die gewaltigen Raumschiffe, die wie Christbaumschmuck waren und mit Lichtgeschwindigkeit zwischen den Sternen umhersausten; in jedem von ihnen hunderttausend nackte, rote Körper in freiem Fall, die während der jahrelangen Reise zur Erde schliefen. Ich schaltete unvermittelt von der inneren Vorstellung auf die äußere Realität um, und als ich Serracord im Schein der Straßenbeleuchtung vor mir sah, wie er unter den Planetenfotos und Raumschiffpostern, mit denen seine Wohnung geschmückt war, zu schweben schien, gab es keinen Unterschied zwischen beiden.
Ich bekam augenblicklich eine Erektion.
Serracord bemerkte es und lächelte. Ein Menschenlächeln. Ein Zähnelächeln. Ich war mir nicht sicher, ob es eine Drohung war oder ein Zugeständnis an mein Menschsein.
»Wie ist es, durch den Weltraum zu reisen?« fragte ich, um ihn von der Schwellung in meiner Hose abzulenken.
»Woher soll ich das wissen?« meinte Serracord.
Ich war geschockt. Serracord lächelte erneut. Ein Shi’an-Lächeln. Ein Augenlächeln.
»Man versetzt uns in Stasis, bevor wir den Orbit verlassen«, sagte der Alien. »Man trifft an der Abfertigung des Raumhafens ein, man wird aufs Raumschiff durchgeschleust, und das letzte, was man sieht, ist die Luke, hinter der die Heimatwelt verschwindet. Als nächstes sieht man, wie sie sich zu einer anderen Welt wieder öffnet. In der Zwischenzeit sind zehn Jahre vergangen.«
»Ich dachte, der Flug würde sechzig Jahre dauern.«
»Sechzig objektive, zehn subjektive. Relativistische Zeitdilatation. Doch selbst diese Spanne währt zu lange, als daß die Siedler wach bleiben könnten. Abgesehen von der Langeweile könnten die Schiffe nicht genug Vorräte für hunderttausend Passagiere mitnehmen. Nur die Besatzung bleibt während des Fluges wach.«
»Sechzig Jahre Schlaf«, sagte ich. Serracord mußte seine Heimatwelt im Jahre 1946 verlassen haben. Der Zweite Weltkrieg war dabei, in den Kalten Krieg überzugehen. Eine Zeit der Rationierungen, keine Bananen, und Attlee Premierminister. Austerity, großzügige Jungs, Frauen, die sich mit Bratensoße die Beine braun färbten und Strumpfnähte aufmalten; Schwarzmarkthandel, Dampfeisenbahnen, Autos mit Trittbrettern. Die Leute hielten die Atombombe noch für eine tolle Sache, als die achtundachtzig Schiffe der Fünfzehnten Interstellaren Flotte der Shi’an ihre Mach-Antriebe einschalteten und von ihrem Heimatsystem aufbrachen. Große Worte. Große, aufregende Ideen. Erotische Konzepte. »Fünfundzwanzig Jahre vor meiner Geburt. Meine Eltern waren gerade erst zur Welt gekommen. Wie alt sind Sie?«
»Für wie alt halten Sie mich?«
»Schwer zu sagen. Mir fehlt der Vergleichsmaßstab.«
Der Alien neigte den Kopf in einer Weise, die bei einem Menschen Schüchternheit bedeutet hätte. Was sie bei einem Shi’an bedeutete, weiß ich nicht.
»Ich bin als einer der letzten auf der Heimatwelt geboren worden«, sagte Serracord. »Als ich meine Schwesternschaft verließ, war ich gerade erwachsen geworden. Wir reifen früh, wissen Sie.«
»Wie früh?«
»Mit acht Jahren.«
Vier Jahre war es her, seit die Shi’an das rezessionsgeplagte Gerippe der Docklands in Besitz genommen hatten. Das wunderschöne, fremdartige, sexsprühende Wesen vor mir war zwölf Jahre alt. Der Penis pochte mir so hart in der Hose, daß es weh tat.
»Wie sieht sie aus, Ihre Heimatwelt?« Ich nahm Serracords Hand, hielt seine drei Finger in meinen vieren.
»Sie stellen viele Fragen, Mensch. Die meisten Frooks wollen bloß schnell zur Sache kommen.«
»Frooks?«
Sein amüsierter Blick war vollkommen menschlich.
»Ich dachte, das wüßten Sie, Mr. Welshman. Frooks. Menschen, die sich sexuell zu Shi’an hingezogen fühlen.«
Frooks. Singular: Frook. Ein häßlicher Name. Ein Name wie der Blick des Mannes im Sex-Shop, als ich das Magazin kaufte. Ein Name für ein Ding, für einen Zustand, nicht für eine Person. Ziemlich unpassend für einen Geschäftsführer in den Dreißigern, den Geschäftsführer einer Bekleidungsfiliale aus Rhyl, wo es keine Aliens gab unter den bunten Lichtern der Promenade oder vor dem Regen Schutz suchend in den Pubs und den Amüsierpassagen voller Spiele aus dem letzten Jahrhundert. Eindringlinge aus dem Weltraum. Als Kind war ich weitab vom Schuß. Ein Ort ohne Wunder, ohne Schönheit; ein Ort, am dem es den Geschäftsleuten nicht gestattet war, vor Anbruch der Dämmerung im Dunkeln zu sitzen und zum erstenmal das Gefühl zu haben, die Freiheit zu besitzen, das zu sein, was sie schon immer hatten sein wollen. Ein Frook. Ich war ein Frook.