Der Schock hatte nachgelassen. Ich wußte, ich würde mich an den Klang des Namens gewöhnen.
Den Schock hatte nicht die Plötzlichkeit des Begreifens ausgelöst, so als wäre der Name ein halber Ziegelstein gewesen, mit dem mich jemand beworfen hatte. Sondern die Erkenntnis, daß ich schon immer ein Frook gewesen war. Ich war schon ein Frook, noch ehe die Shi’an kamen. Wenn ich meinen sexuellen Werdegang Revue passieren ließ, dann erkannte ich den dünnen roten Faden des Frookseins darin. Ich war der ulkige Junge gewesen, der in die Pubertät gekommen und Eier, Bart und Körperbehaarung entwickelt hatte, als meine Freunde noch so unschuldig und rein wie die Englein gewesen waren. Ich war der Gehemmte beim Umkleiden gewesen, der gegen die in ihm brodelnden Hormone angekämpft hatte, die mich dazu brachten, diese wunderschönen, geschlechtslosen Wesen zu begehren, während mir meine Wünsche gleichzeitig Angst einjagten, und ich nicht wußte, wie ich damit umgehen sollte. Selbst dann noch, als ich mich daran gewöhnt hatte, Mädchen zu mögen, hatte ich immer das Gefühl gehabt, daß irgend etwas fehlte. Ihre Konturen waren zuviel, zu plump. Männer waren aber einfach bloß häßlich. Große, ungeschlachte, rauhe Wesen. Ihnen mangelte es an Schlankheit. An Zartheit. An Subtilität, Geheimnis, geschlechtsloser, androgyner Schönheit, wie sie die Zwölfjährigen besaßen, nach denen ich lechzte, während ich meinen monströsen Körper in den Umkleideräumen der Schule vor ihnen verbarg.
Und noch etwas fehlte ihnen. Ein drittes Geschlecht.
Und dann kamen die Shi’an.
Anfangs wußte ich noch nicht, daß ich für sie geschaffen war. Damals, als sie das bedeutendste Ereignis darstellten, das der Menschheit jemals widerfahren war, und wir benommen waren von ihrer strahlenden Schönheit, waren wir alle Frooks. Bei mir ließ die Begeisterung allerdings niemals nach. Ich besitze Hunderte von Stunden mit Videoaufzeichnungen über die Shi’an – größtenteils ungesehen. Ich habe Sammelalben mit Ausschnitten aus Zeitungen, farbigen Fotobeilagen und Magazinen. Als der Shi’an-Look in Mode kam, durchstöberte ich die Modejournale nach Shi’an-Models. Ich hatte eine Pinwand. Ich glaube, damit hat alles angefangen, mit den Pin-ups, die ich niemandem zeigte, nicht einmal meinen Freundinnen, die alle mager, flachbrüstig und jungenhaft waren. Und das Ende davon war – wenn nicht dieser Morgen in dieser Wohnung, und das glaube ich nicht, es ist eher ein Anfang –, daß ich zu meiner letzten Freundin sagte, ein Bürstenschnitt und rot gefärbtes Haar würden ihr gut stehen.
»Du möchtest, daß ich aussehe wie ein beschissener Sheenie«, hatte sie gemeint.
Nein. Ich wollte, sie wäre ein beschissener Sheenie gewesen. Sie hatte mir den Gefallen getan, und von da an bekam ich endlich wieder bei ihr einen Ständer, was mir schon sehr lange nicht mehr gelungen war. Das ging eine ganze Weile so. Sie hatte so ausgesehen, aber sie war es nicht gewesen. Aussehen allein reichte nicht. Wir haben uns vor einem Monat getrennt. Es war das einzig Ehrliche, was ich tun konnte. Sie konnte jemanden finden, der sie um ihrer selbst begehrte. Ich wäre frei, nach dem zu suchen, was ich wollte und was sie nicht war.
Ich hatte Phantasievorstellungen von etruskischen Terrakottaköpfen, von roten Settern und der geschlechtsverhüllenden Glattheit von scharlachrotem Lycra.
Frook. Der häßliche Name hatte mich frei gemacht. Er gab mir die Möglichkeit, mein altes Leben hinter mir zu lassen und mich im Frooksein zu verlieren. Ich brauchte nicht zu dem Laden zurückzukehren, zu der Stadt, in der es ständig regnete und alles immer geschlossen hatte, zu der Wohnung mit dem Kühlschrank voller Fertiggerichte und dem Fernseher, der um sechs anging und den ich erst wieder ausschaltete, wenn ich mitten in der Vorankündigung für die Spätabend-Talkshows aufwachte und mir klar wurde, daß ich beim Fernsehen eingeschlafen war. Das alles konnte ich hinter mir lassen. Ich konnte glücklich sein. Am liebsten hätte ich geweint. Doch das hätte Serracord verwirrt. Die Shi’an können nicht weinen, weder vor Freude noch aus Schmerz. Sie haben keine Tränen. Sie werden höchstens dunkel um die Augen.
»Frook.« Ich sprach das Wort laut aus, gab mir einen Namen. »Gibt es bei Ihnen ein entsprechendes Wort? Narha, heißt so nicht Ihre Umgangssprache? Ich glaube kaum – ich kann es mir nicht vorstellen. Die Paarungschemikalien haben bei Ihnen eine sehr heterosexuelle Gesellschaft zur Folge. Etwas anderes kennen Sie bestimmt nicht.«
»Ihr Menschen setzt Liebe immer mit Sex gleich«, sagte Serracord. »Für uns sind das zwei verschiedene Dinge. ›Liebe‹ kann man jedem entgegenbringen, dem man sich verbunden fühlt, ob Mann oder Frau, Sexpartner oder nicht. ›Sex‹ ist Begierde. Sex ist brennende Gier und Raserei. Sex ist eine Intensität, die nicht phasenabhängige, semisexuelle Menschen sich gar nicht vorstellen können.«
»Wie kommt ein Shi’an dann dazu, Geschlechtsverkehr mit einem Menschenmann haben zu wollen?« fragte ich, hob Serracords Hand ins Licht und untersuchte die Form der Fingernägel, die Finger, die Knochen. »Wie kommt es, daß Sie, Serracord – was sind Sie eigentlich, Serracord, Mann oder Frau? –, mit mir Sex haben wollen?«
Serracord entzog mir seine Finger. Der Alien erhob sich und blickte auf mich herunter.
»Ich glaube, Sie haben es immer noch nicht begriffen, Mr. Welshman.«
Im Licht der Natriumdampflampen öffnete Serracord seine Seidenbluse. Beim Anblick der flachen Brust, die dunkel wirkte im gelben Licht, und der drei parallel angeordneten Reihen von Brustwarzen schnappte ich insgeheim nach Luft. Ich streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Serracords Linke ließ mich innehalten. Mit der rechten rieb er über die mittlere linke Brustwarze und zog daran. Fest. Die Haut dehnte sich. Dann riß die Warze ab.
Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Serracord hielt mir die dunkle Beere zwischen Daumen und Zeigefinger vor die Augen.
»Die sind mit Gummikleber befestigt.«
Serracord schnippte das Ding weg und hob die Hände zu den Augen. Zweimaliges Blinzeln, ein Zucken der Finger. Blaue Pupillen auf weißem Grund. Menschenaugen blickten mich an.
»Reicht Ihnen das noch immer nicht?«
Die für Männer zugeschnittene Levis war aufgeknöpft. Er hatte sie fallengelassen, und man sah den Frauentanga aus Spitze, den er darunter trug. Ich konnte den Blick nicht abwenden von dem geschwungenen Dreieck glatter, sommersprossiger Haut zwischen den Schenkeln, als die Finger den oberen Rand abpellten und sich dann darunterzwängten.
»Serracord, um Himmels willen, bitte!«
»Synthetische Haut. Wie man sie bei Brandopfern verwendet. Das Hautmuster mache ich selbst mit Körperfarbe, mit dem gleichen Zeug, das ich für die Ganzkörperfärbung verwende. Ich kann Ihnen zeigen, wie das geht. Es ist ganz leicht; was man wissen muß, erfährt man übers Fernsehen oder aus Büchern und Zeitschriften. Alles, was man wissen muß, um einer von denen zu werden.«
Ich zitterte. Am liebsten hätte ich alles ausgewürgt, was ich im Laufe der Nacht zu mir genommen hatte. Ich wollte den Blick abwenden von diesem Wesen, das sich vor mir entblätterte, doch dieser grauenhafte Terrakotta/Setter/Scharlach/Lycra-Fetisch ließ mich einfach nicht los.
»Ich dachte, Sie wüßten, was für eine Art Club das ist.«
»Sie alle?« brachte ich trotz meines Zitterns und meiner Übelkeit hervor.
»Die meisten. Ein paar sind echt. Sehr wenige. Wie Sie schon sagten, warum sollten sie uns begehren? Ich dachte, Sie wüßten das. Ich dachte, Sie wollten das Spiel durchziehen. Es tut mir leid – ich wollte Sie nicht verletzen, aber ich konnte nicht so weitermachen. Sie werden mir vielleicht nicht glauben, aber ich mag Sie. Sie haben was Besseres verdient. Sie sind ein netter Kerl. Ich wollte wirklich mit Ihnen ins Bett gehen. Ich möchte es noch immer.«