»Aber Ihre Nase, Ihre Ohren, Ihre Finger«, meinte ich flehentlich. Ich klammerte mich an die Hoffnung, doch der unablässige Regen spülte sie von den Straßen von Rhyl.
»Dafür gibt es kosmetische Chirurgen. Allerdings kostet das einiges. Alles läßt sich verändern, bloß die Augen nicht. Aber man kann sich Kontaktlinsen machen lassen. Sind allerdings verflucht teuer. Und da unten machen sie nichts.« Eine Hand wanderte zu dem runzligen Beutel aus sommersprossiger synthetischer Haut.
»Aber warum? Warum tut man sich so etwas an?«
»Manche wollen mit ihnen zusammen sein. Manche wollen mehr. Manche von uns wollen sein wie sie. Alle wollen wir sie haben, begehren wir sie, jeder auf seine Art.«
»Aber wir können sie nicht bekommen«, sagte ich und blickte dem Menschen, der sich Serracord nannte, in die Augen.
»Können wir jemals bekommen, was wir uns wirklich wünschen, oder sein, was wir sein wollen?«
Ich dachte an mein Hotelzimmer, an die im Dunkeln wartenden Koffer und an das unbenutzte Bett und das Licht, das durchs vorhanglose Fenster fallen würde.
»Was sind … was waren Sie?«
»Ist das wichtig?«
»Wohl kaum.«
»Möchten Sie noch ein Bier? Es gibt keinen Grund, jetzt zu gehen.«
»Jetzt begreife ich das mit dem Bier.« Und zahllose andere verräterische Details, die ich nicht beachtet hatte, weil ich sie nicht hatte wahrhaben wollen.
»Manche Dinge kann man nicht so einfach aufgeben.« Serracord lächelte, das Menschenlächeln, das Zähnelächeln. »Wir können auch bloß reden; mehr brauchen wir nicht zu tun. Für mich war es ein prima Abend. Tut mir leid, daß ich Sie enttäuscht habe.«
»Worüber reden?«
»Wer wir sind, was wir wollen, was wir sein möchten.«
Ich zuckte die Achseln. Serracord faßte das als Zustimmung auf und wandte sich zur Küche, um neue Flaschen zu holen. Ich hielt den Alien auf. Ich hob seine rechte Hand hoch, betrachtete die längst verheilte Narbe, dort, wo der kleine Finger chirurgisch entfernt worden war.
»Das ist wirklich gut gemacht«, sagte ich. Ich hob die Hand an die Lippen und küßte die Narbe.
Originaltiteclass="underline" ›FROOKS‹ • Copyright © 1995 by Ian McDonald • Erstmals erschienen in ›Interzone‹, Oktober 1995 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Stöbe • Illustriert von Jobst H. Teltschik
Nancy Etchemendy • USA
MOLLUSKENTRÄUME
Ellies Verwandlung begann im Waschsalon, genau in dem Augenblick, als ihr eine schreckliche Einsicht kam.
Es war ein Sonntagmorgen, ihr einziger freier Tag in ihren beiden Jobs als Serviererin und Putzfrau. Sie hatte die Wäsche der Familie gerade aus der Maschine geholt und die nassen Sachen in einen Rollkorb geworfen. Da kein Trockner frei war, stand sie wachsam am Ende der Reihe, wartete auf einen und machte sich währenddessen ein bißchen Sorgen um Robbies ausgebleichtes schwarzes T-Shirt, das an Carolines neuer pinkfarbener Shorts lag. Schließlich kam einer der Trockner zum Stehen, und sie fuhr ihren Rollkorb hinüber.
Es waren noch mehr Leute im Waschsalon. In einer Ecke saß ein pummeliger junger Mann, der Coke aus einer großen Flasche trank und einen Taschenbuchkrimi las. Ein älteres Paar in zueinander passenden Strickpantoffeln besetzte zwei Plastikstühle in der Reihe vor dem Fernseher an der Wand. Mehrere Frauen standen oder saßen im Raum verteilt. Eine legte Strümpfe zusammen; eine schwatzte kokett mit einem muskulösen Mann, dem die Dreadlocks bis zur Mitte des Rückens herabfielen; eine andere hatte sich schwer auf eine Bank sinken lassen, hockte nun vorgebeugt da, die Ellbogen auf den Oberschenkeln, und starrte Kaugummi kauend durch die großen Fenster auf etwas hinaus, das niemand außer ihr sehen konnte – etwas jenseits der Stadt und des Tales, jenseits der Berge, vielleicht sogar jenseits des fernen Ozeans.
Als der Trockner zum Stehen kam, rührte sich niemand. Ellie wartete darauf, daß jemand kam, aber dreißig Sekunden tickten dahin, und nichts geschah. Da sie es eilig hatte, öffnete sie den Trockner, holte sich einen leeren Rollkorb und begann, die trockene Wäsche des oder der Fremden darin zu stapeln.
Die Kaugummikauerin schaute in ihre Richtung. Ellie sah, wie die leere Miene der Frau zornig wurde, während sie sich hochhievte und angewalzt kam. »Moment mal, verdammt. Das ist mein Trockner.«
Ellie blieb für einen Moment reglos stehen. Ihre Gedärme krampften sich zusammen, und ihr Gesicht brannte. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, jemanden in Rage zu bringen. Sie hatte nur so viel zu tun und so wenig Zeit. Es war nicht bloß die Wäsche, sondern auch der Lebensmitteleinkauf, das Essen für die Kinder, ihre schmutzige Wohnung, die darauf wartete, geputzt zu werden – der ewige Kampf darum, daß nicht alles in schreckliche Unordnung geriet. Sie hatte oftmals das Gefühl, die Zeit sei ihr Blut und jede Sekunde ein vergossener Tropfen, der nicht mehr aufzufangen war.
Sie richtete sich auf. »Ich hab gewartet, aber es ist niemand gekommen. Ich dachte, Sie wären fertig«, sagte sie.
»Das sind meine Wäsche und mein Trockner, und ich wär Ihnen dankbar, wenn Sie die Finger davon lassen könnten.«
Die Frau war jetzt näher. Sie hatte die Fäuste in die teigigen Hüften gestemmt, und ihre gefletschten Zähne hatten die Farbe von gelblichem Ocker.
Ellie holte etwas aus dem Trockner – eine Bluse, zwei Schlüpfer, sie wußte es nicht genau, sie sah nur, daß es schwarz war – und warf es absichtlich auf den mit Fusseln übersäten Boden.
Die Kaugummikauerin war jetzt ganz nahe, und ihre Nagetierzähne teilten sich zu einem kleinen, empörten Aufschrei. Sie wusch ihre Wäsche bei weitem nicht oft genug, und sie badete auch zu selten. In der feuchten, zugigen Luft des Waschsalons roch ihr Schweiß äußerst intensiv. Ellie wich zurück.
Die Frau griff nach Ellies Rollkorb. Ihre gelben Fingernägel entweihten die sauberen, nassen Kleidungsstücke, als Ellie sie am Handgelenk packte. Schweratmend standen die beiden Frauen einander gegenüber. In diesem einen, bernsteinfarbenen Moment nahm Ellie sich selbst sehr genau wahr. Die kleinen Details des Waschsalons wurden bedeutsam. Die schmierigen Fingerabdrücke an den abblätternden Wänden, an denen keine Maschinen standen; der gräuliche BH-Träger der Kaugummikauerin, der sich in ihre fleischige Schulter grub und nur zu sehen war, weil die Ausschnittkante ihrer Polyesterbluse eingerissen war; das melodische Klappern eines defekten Waschautomaten. Ellie sah, daß – sofern keine großen, geheimnisvollen Veränderungen in ihren Lebensumständen eintraten – ihre Träume niemals wahr werden würden. Ihr Mann würde nie eine regelmäßige Arbeit haben. Ihre Kinder würden nie aufhören, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Weder sie selbst noch ihre Kinder würden jemals aufs College geben. Das Chaos würde sie verschlingen, und ihr letztes Stündchen würde in einer schäbigen Bude schlagen, nachdem sie ihr Leben lang die Badezimmer anderer Frauen geputzt hatte.
Ellie blinzelte, ließ das Handgelenk der Kaugummikauerin los und fuhr ihren Rollkorb in eine andere Ecke des Waschsalons, wo sie sich hinsetzte und auf den nächsten freien Trockner wartete.
Sie war ohne den Wagen da. Den hatte sie zu Hause stehenlassen, weil Hurley, ihr Mann, nach der Schicht an der Tankstelle vielleicht noch zum Holzlager runterfahren wollte, um Holzreste für ein ›Projekt‹ zu besorgen, an dem er arbeitete. Er schwieg sich darüber aus, worum es sich dabei handelte, aber sie argwöhnte, daß es eine Destille war. Einer seiner Freunde behauptete, er würde 50 Dollar pro Monat sparen, weil er sich den Schnaps eigenhändig im Garten destillierte. Daß sie und Hurley keinen Garten hatten, würde ihren Mann nicht davon abhalten, es auszuprobieren. Hurley schien immer die schlechtesten Ideen anderer Leute zu stehlen. Warum hatte sie ihn geheiratet? Vom Gefühl her wußte sie keine Antwort mehr darauf, obwohl sie sich noch an die Gründe erinnerte – seine kindliche Leidenschaft, seine Energie, sein gutes Aussehen und seinen Charme. Früher einmal hatte sie geglaubt, daß er die Welt verändern würde, daß ihnen die Zukunft gehören würde wie eine reiche Ernte goldener Pflaumen. Das hatte genügt, um sie gegen die zahlreichen Pläne und Wünsche ihrer Eltern aufbegehren zu lassen. Eleanor, so hatten sie sie getauft, ein stolzer, hoffnungsvoller Name. Sie benutzte ihn nicht mehr, weil er viel zu hoheitsvoll wirkte für die Frau, die sie geworden war.