Die Kinder hatten ein Tretauto, mit dem sie seit Jahren nicht mehr spielten. Sie und Hurley hatten sich zu Weihnachten einmal Geld von Ellies Mutter geliehen, um es zu kaufen. Robby und Caroline hatten es draußen im Regen stehenlassen, und jetzt war es rostig, aber die Räder drehten sich noch. Ellie benutzte es oft, wenn sie zum Waschsalon ging, der nur ein paar Blocks von ihrer Wohnung entfernt war.
Als die Wäsche fertig war, legte sie sie zusammen und verstaute sie in einer Pappschachtel, die in das Wägelchen paßte. Sie setzte sich in Bewegung, schob sich langsam durch die sommerliche Luft wie durch eine warme, feste Masse. Als sie mit dem quietschenden Tretauto im Schlepptau am Seven-Eleven, dem KFC und einem heruntergekommenen Blumenladen vorbeikam, wurden ihre Schritte immer kürzer, bis sie schließlich ganz stehenblieb. Sie konnte kaum noch die Füße heben, geschweige denn ihr Leben verändern. Ein Meer leerer Zeit breitete sich vor ihr aus. Einen Moment lang geriet sie in Panik. Sie wußte, daß Hurley an ihrer Stelle in die nächste Bar gehen und trinken würde, bis das Geld alle war. Sie hingegen hatte schon gleich gar kein Geld – nur das Scheckbuch und zwei Zehncentstücke, die vom Waschsalon übriggeblieben waren. Dieser handfeste Gedanke belebte sie wieder ein bißchen. Sie schüttelte sich und ging langsam weiter nach Hause.
Ihre Wohnung befand sich in einem Schlackensteingebäude mit sechs Wohneinheiten, das mit Teerdachpappe gedeckt war. Gras und Blumen hatten einmal die Gehwege gesäumt, aber sie waren seit Jahren nicht mehr gepflegt worden und völlig überwuchert. Ellie blieb für eine Minute stehen, um eine Schnecke zu beobachten, die am schattigen Rand des Weges auf feuchtes Unkraut zuglitt. Es gab Leute, die Schnecken zertraten. Sie hatte das nie getan, obwohl sie nicht sonderlich viel für sie übrig hatte. An diesem Tag jedoch bückte sie sich, um sie genauer anzusehen. Sie fühlte sich auf merkwürdige Weise von dieser Schnecke angezogen. Ihr Gehäuse war von einem satten, streifigen Braun. Die vier winzigen Fühler bewegten sich vor ihr anmutig hin und her, während sie dahinglitt. Hinter ihr glänzte eine Schleimspur auf dem Beton. Überrascht ertappte Ellie sich bei dem Gedanken, daß sie alles in allem eigentlich ganz hübsch war.
Sie trug den Wagen die Treppe hoch und stellte ihn auf dem Absatz vor ihrer Wohnungstür ab. Die schwere Wäscheschachtel auf einem Arm, entriegelte sie mit der freien Hand die Tür und drehte den Knauf. Sie konnte die Kinder drinnen streiten hören.
»Furz, Furz, Furz, Furz! Ich sag’s, wann ich will!« Das war Robby, neun Jahre alt, ein zäher Klumpen zumeist dem Fernsehen entnommener Charakterzüge.
»Ist mir scheißegal, was du sagst, Arschgesicht. Hauptsache, du läßt deine verpißten kleinen Pfoten von meinem Experiment.« Und das war Caroline, die mit ihren zehneinhalb Jahren besser fluchen konnte als die abgebrühtesten Verbrecher.
»Ich bin wieder da«, rief Ellie, als sie die Tür aufstieß. Manchmal reichte das schon, um das Gezänk zum Verstummen zu bringen. Immer öfter aber nicht.
»Mom, Caroline verstümmelt schon wieder Käfer.«
Caroline saß mit einem Vergrößerungsglas und einer Rasierklinge in der Küche. Ein Einmachglas mit drei Ohrwürmern darin stand vor ihr auf dem Tisch. Einer der Ohrwürmer, der nur noch die Hälfte seiner Beine hatte, drehte kleine, verzweifelte Kreise auf dem Boden des Glases. Das merkwürdige Gefühl der Ziellosigkeit, das Ellie draußen vor dem Waschsalon befallen hatte, senkte sich wieder auf sie herab. Sie versuchte es zurückzudrängen.
»Hör auf damit, Caroline. Du weißt, daß man das nicht tut«, sagte sie, aber selbst sie hörte, wie wenig überzeugend es klang.
»Zwing mich doch«, sagte Caroline grinsend und warf ihr einen kurzen Blick zu. Gestern hätte Ellie ihr dafür eine runtergehauen. Aber jetzt sah sie, daß es Energieverschwendung war. Wie Hurley oftmals demonstriert hatte, waren Ohrfeigen seit dem Krabbelalter ohne sichtbare Auswirkungen auf das Benehmen des Kindes geblieben. Je nach ihrer Stimmung verfiel Caroline entweder in eine wilde Wut- und Trotzphase, die tagelang anhielt, oder sie grinste spöttisch und lachte gekünstelt, fast so, als gefiele es ihr und als wolle sie mehr.
Als Caroline sah, daß die übliche Reaktion ausblieb, versuchte sie es erneut. »Dein perfekter kleiner Liebling hat seine dreckigen Schuhe auf dem Wohnzimmerteppich abgestreift. Ist dir das auch egal?«
Ellie schaute an Caroline vorbei ins Wohnzimmer. Sie sah nicht viel Schmutz. Sie dachte wieder an die Schnecke – wie sie dahingeglitten war, unnahbar und distanziert, und sich ganz einfach nur um ihre Schneckenangelegenheiten gekümmert hatte, ohne sich für etwas anderes als das unmittelbare Überleben zu interessieren. Die Luft war wieder warm und gelatinös geworden. Sie bewegte die Finger langsam vor dem Gesicht hin und her.
»Ja«, murmelte sie. »Das ist mir egal.«
Die Kinder starrten sie mit offenem Mund an, als sie die saubere Wäsche auf dem Tisch abstellte, statt sie sofort ordentlich in Kommoden und Schränken zu verstauen. Sie machte sich schläfrig auf den Weg zu ihrem Zimmer und dachte dabei an den schnellen, aber intensiven Sex, den sie und Hurley manchmal in ihrem durchgelegenen Bett hatten. Das war etwas richtig Tolles an ihm, diese Fähigkeit, sich von nichts ablenken zu lassen, wenn er sie anfaßte, so daß sie in seiner ungeteilten Aufmerksamkeit badete und sich verehrt und geliebt fühlte, wenn auch nur für kurze Zeit. Vielleicht war sie deshalb so lange bei ihm geblieben, obwohl sie sich innerlich ziemlich leer fühlte.
Falls die Kinder sie überhaupt liebten, so wollten oder konnten sie es nicht zeigen. Wahrscheinlich würden sie es merken, wenn ihre Mutter sie verließ, weil ihnen niemand mehr die Klamotten waschen und hinter ihnen herräumen würde, und dann wären die Schränke bald leer. Ellie hatte Angst davor, was aus Robby und Caroline werden würde, wenn sie die beiden in Hurleys Obhut zurückließ. Sie liebte sie, wie sie auch Hurley auf ihre Art liebte. Mochten sie sein, wie sie wollten, sie konnten nichts dafür. Ihr Vater war unberechenbar, trank zuviel und schlug sie häufig in seiner Wut und seiner Frustration. Sie selbst war ebenfalls schuld. Sie hatte es nie geschafft, sich Zeit für sie zu nehmen. Die Kinder hatten sie immer nur als Arbeitstier erlebt – erschöpft, unkonzentriert und nervös. Für all das konnten sie nichts. Sie hatten es nicht verdient, von Hurleys klobigem Absatz zertreten zu werden, selbst wenn es nur aus Versehen geschah.
Während sie diese schrecklichen Dinge dachte, legte sich die Verzweiflung auf ihre Schultern, und ihre Augen begannen zu brennen. Sie hatte ihr Bestes getan, aber es war nicht genug, es würde nie genug sein. Robby flatterte wie ein fröhlicher Nachtfalter um sie herum. Seine Stimme drang wie durch Haferschleim an ihr Ohr. »Mom, der Teppich fühlt sich so eklig an. Er ist ganz schmutzig. Willst du nicht staubsaugen? Und wie steht’s mit Essen? Ich hab Hunger. Es ist nichts zu essen da. Gehst du nicht einkaufen?«
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Tut mir leid.« Sie legte sich aufs Bett und schloß die Augen.
Sie hatte einen lebhaften, detaillierten Traum, in dem sie die Schnecke war, die sie auf dem Weg draußen gesehen hatte. Dunkelheit umhüllte sie, und die Geräusche der Nacht waren gewaltig und schön. Da sie keine Ohren hatte, hörte sie sie nicht, sondern fühlte eher ihre Vibrationen in den flüssigen Zellen ihres weichen Körpers. Grillen zirpten nicht nur; sie summten wie die Pfeifen von Kirchenorgeln. Die abendliche Brise wisperte in seidigen Strömen um sie herum. Es war eine trockene Nacht, kein Regen und nur wenig Tau. Auf einer Schleimspur, die auf angenehme und befriedigende Weise von ihrer Fußdrüse abgesondert wurde, glitt sie über ein großes, duftendes Blatt. Sie wollte den Rand erreichen, um dort zu fressen. Die Muskeln ihres Fußes zogen sich in geschmeidigen Wellen zusammen und trugen sie stetig voran. Der Wohlgeruch des Blattes überflutete und durchströmte sie. Sie richtete ihre Augenstiele nach unten, um den Lichtschimmer im Dunkeln zu sehen, als sie dem Rand näherkam. Dann war es endlich soweit: Sie streckte ihre mit kleinen Zähnchen besetzte Radula aus und schabte damit eifrig über die delikate grüne Blattspreite. Das Blatt sang für sie, und sie sang für das Blatt. Ehre sei dir, du gutes, saftiges Blatt, mögen alle Steine, alle Bäume, alles, was des Nachts kreucht und fleucht, deinen Namen preisen.