Ellie schlug Caroline ins Gesicht. Einmal, zweimal, dreimal. Sie hätte weitergemacht, wenn Hurley nicht ihr Handgelenk festgehalten und ihr befohlen hätte, damit aufzuhören, es sei doch nur eine verdammte Schnecke. Carolines Grinsen war verschwunden und einer so ungeheuren Wut gewichen, daß sie nur in Form eines unartikulierten Gebrülls zum Ausdruck kam.
Ellie ging zur Wohnungstür hinaus. Ihre Finger, die das Glasgefäß umfaßten, waren weiß. Sie ging die Treppe hinunter und trat auf den Weg mit dem unkrautüberwucherten Rand. Dort, zwischen kühlem dunklen Löwenzahn und Schwalbenwurzgewächs, legte sie die tote Schnecke hin. Sie wischte sich die Tränen mit dem T-Shirt ab und dachte kurz und beklommen an ihre zerrissene Bluse mit den grünen Flecken. Nach einer Weile ging sie wieder nach oben, zog sich aus und ging zu Bett. Der stille Teich des Schlafes zog sie an, und sie fiel trotz Carolines bitterem Gekreisch im anderen Zimmer wie ein Stein hinein.
Diesmal unterbrach sie der Geruch einer anderen Schnecke beim Fressen. Andere ihrer Art hatten eine elementare, normale, vertraute Ausdünstung von großen Gewässern und eßbaren Dingen – Pilzen, Zwiebeln, Keimblättern, frischem Dung. Diese andere hatte gerade die würzigen Blütenblätter einer Ringelblume verspeist. Aber da war auch noch etwas anderes: ein Duft der Reife und des Verlangens, der sie anzog. Sie kroch den Stiel hinunter. Zwischen ihr und der anderen lag ein Feld aus Steinen, und zwischen den Steinen ein dicker Mulch aus vertrockneten Eichenblättern. Die feste Freundlichkeit der Steine war leicht. Aber die Eichenblätter hatten dornige Ränder und eine ätzende Haut, die brannte und prickelte, als sie darüber hinwegkroch. Das erregte sie.
Sie wußte von den schlichten Versammlungen, die täglich zu Beginn des Sonnenaufgangs stattfanden, wenn die ersten Raubvögel sich regten und der Tau als Nebel aufstieg, der bald verdunsten und eine zu trockene Welt hinterlassen würde. Zu dieser Zeit wurden die Grenzen zwischen Licht und Schatten scharf, und die Sonne erhitzte ihr Gehäuse. Dann sammelten sie und die anderen sich an einem Platz, in der verborgenen Kühle und Feuchtigkeit unter Sukkulenten, unter Steinen oder im Schatten nahe bei einem tropfenden Wasserhahn. Dorthin zogen sie sich zurück, legten sich Haus an Haus und blieben bis zum Einbruch der Dunkelheit reglos liegen. Sie waren ihr wohlvertraut, diese Rituale des beiläufigen Kontakts, des aneinander Entlanggleitens, der wechselseitigen Erforschung von Fühlern und Drüsen, des kurzen Austauschs von Schleim und Geruch.
Worauf sie sich jetzt zubewegte, war anders und sehr viel einladender. Der kräftige Duft der anderen wurde stärker – Blitze, Harz, das Meer, der Geruch eines schlichten Wunsches. Die Eichenblätter stachen sie, so unerträglich wie eine juckende Stelle, die man sich nicht kratzen konnte, bis sie zu einem Fleckchen bloßer Erde gelangte und ihre Partnerin dort fand, ebenso erwartungsfroh wie sie selbst. Sie drückten ihre Unterseiten aneinander. Oh, wie herrlich sie auf ihren Schneckenhäusern rollten und sich an den empfindlichen Stellen hinter den Köpfen zwickten, während Sterne die Nacht über ihnen durchbohrten und eine Spottdrossel in der Ferne das Lied der Gefahr sang. Hermaphroditisch drangen sie ineinander ein, gesalbt und jubilierend, und wurden wechselseitig durchdrungen. Wie anders dies für jenen Teil von ihr war, der sich als Ellie kannte. Hurley tat ihr trotz seiner atemlosen Aufmerksamkeit häufig weh, ohne sie dafür zu entschädigen. Und wenn er sie später fragte, wie es ihr gefallen hatte, mußte sie lügen, um seine Gefühle zu schonen. Solche Probleme gab es nicht bei den Schnecken, für die das Kopulieren ein unkompliziertes Fest war, bei dem nichts als das Begehren und die Erfüllung eine Rolle spielten.
Sie machten noch stundenlang weiter, bis sie sich schließlich erschöpft trennten und sich von der Morgensonne wärmen ließen. Bevor die Feuchtigkeit der Nacht verschwand, fand Ellie einen Platz und schlief dort, ohne zu träumen.
Das Bett war naß. Das Kissen war naß. Ihre Unterwäsche war naß. Strahlender Sonnenschein fiel zum Fenster herein. Es war fürchterlich heiß, und Hurley schrie auf sie ein.
»Was, zum Teufel, ist denn hier los? Hast du ins Bett gemacht oder was?«
Ellie zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie waren trocken und sandig und taten weh. Sie wollte sie wieder schließen. »Wasser«, krächzte sie. »Ich hab Durst.«
»Durst!« brüllte Hurley. Er stand nackt neben dem Bett, mit schlaffem Penis; die Adern an seinem Hals traten hervor. »Dir werd ich’s zeigen! Wenn du so verdammt durstig bist, dann trink das hier!« Er packte sie am Hals und drückte ihr Gesicht in die durchnäßten Laken. Seine beiläufige kleine Brutalität brachte sie zum Weinen. Das Schluchzen fing sich rauh in ihrer Kehle, aber sie war so ausgedörrt, daß keine Tränen kommen wollten.
Hurley ließ sie mit einem angewiderten kleinen Stoß los. »Hör auf zu plärren und mach, daß du aus dem Bett kommst. Du mußt in einer halben Stunde bei der Arbeit sein.« Er stürmte aus dem Zimmer. Sie hörte die Klospülung rauschen.
Ellie lag mit der Wange in der kühlen Feuchtigkeit. Es war kein Urin. Sie hatte einen sauberen, schlichten Geruch, wie Salzwasser. Sie dachte an ihre Kindheit zurück, an eine Ferienreise ans Meer, nur sie und ihre Eltern und Tuffy, ihr brauner Hund. Jetzt war Tuffy tot, ihre Eltern waren weit weg, und obwohl sie nur dreißig Meilen vom Meer entfernt lebte, wußte sie nicht mehr, wann sie es zuletzt gesehen hatte. Himmel, hatte sie einen Durst. Aber sie fühlte sich zu schwach, um allein aufzustehen.
»Mom, Mom?«
Sie drehte den Kopf und sah Robby mit einem großen, tropfenden Becher in der Hand am Bett stehen.
»Nicht weinen, Mom. Ich hab dir Wasser gebracht«, sagte er. »Du siehst krank aus. Bist du krank?« Seine Augen waren groß und ängstlich.
Sie griff nach dem Becher und trank Robbys lauwarmes Geschenk gierig in sich hinein. Als sie fertig war, zerzauste sie ihm das Haar. Er roch immer noch so, wie er als Baby gerochen hatte, verschwitzt und süß. Liebe zu ihm spülte in einer großen, kühlen Welle über sie hinweg. »Ist bloß eine kleine Infektion«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen. Mir geht’s gut.«
Robby nickte und wandte sich ab. Sie griff nach seiner Hand. »Schnurzelchen?« sagte sie. Als ihr der Kosename entschlüpfte, merkte sie, wie lange sie ihn schon nicht mehr benutzt hatte.
Robby runzelte die Stirn. Jetzt fiel ihr auch wieder ein, warum nicht. Zu alt. Er war viel zu alt für Kosenamen.
»Danke«, sagte sie. »Das Wasser war köstlich.«
Er nickte erneut. »Was gibt’s zum Frühstück?« fragte er.
Sie brauchte lange, um sich zur Arbeit fertigzumachen, und so kam sie zu spät zu Mrs. Boyle, bei der sie jeden Montag vormittag putzte. Alles bewegte sich in Zeitlupe. Die Luft umströmte ihre Haut wie heiße, gelierte Bouillon. Sie wußte, daß sie Fieber hatte, aber sie hatte ihre Temperatur nicht gemessen. Wozu auch? Sie hatten kein Geld für den Arzt, und sie konnte es sich erst recht nicht leisten, zu Hause zu bleiben und sich ins Bett zu legen.
Die arthritische Mrs. Boyle, die normalerweise ruhig und reserviert war, schalt sie mit schriller Stimme. »Ich schätze es gar nicht, wenn Sie zu spät kommen. Sie könnten mich wenigstens anrufen. Glauben Sie, ich habe nichts anderes zu tun, als dazusitzen und auf Sie zu warten?«
Ellie hatte Mrs. Boyle noch nie aus dem Haus gehen sehen. Sie hatte in dem Haus noch nie das Telefon klingeln hören. Mrs. Boyles Wagen stand in der Garage; die Reifen waren platt und die Fenster trübe vom Staub. Er war seit Jahren nicht mehr bewegt worden. Sie dachte, daß Mrs. Boyle wirklich nichts anderes zu tun hatte, als dazusitzen und auf sie zu warten. Aber Ellie war nicht in der Position, das auch laut zu sagen.
Sie starrte auf den glänzenden Holzboden. »Nein, Ma’am«, sagte sie leise. Sie blickte wieder auf. Selbst diese kleine Bewegung erforderte einen erheblichen Kraftaufwand. »Ich fühle mich heute morgen nicht wohl. Tut mir leid.«