»Sie fühlen sich nicht wohl?« Mrs. Boyle hatte scharfe, mausähnliche Augen. »Dann gehen Sie lieber nach Hause. Na los!«
Eine kleine Aufwallung von Furcht ließ Ellies Hände zittern. Sie brauchte die vierzig Dollar. »O nein, Mrs. Boyle. Ich bin nicht krank.«
»Sind Sie nun krank oder geht es Ihnen gut? Sie sehen schrecklich aus. Gehen Sie nach Hause!«
Als Ellie vor Bestürzung wie festgenagelt stehenblieb, ohne zu reagieren, schnaubte Mrs. Boyle ungeduldig. »Falls Sie sich wegen Ihres Lohns Sorgen machen, dann bezahle ich Sie, damit Sie gehen.« Sie gab Ellie das Geld, wobei sie sorgfältig darauf achtete, ihre Hand nicht zu berühren. »Gehen Sie heim und ruhen Sie sich aus, und kommen Sie erst wieder, wenn Sie gesund sind.«
Hurley hatte sie abgesetzt und den Wagen für nicht näher ausgeführte Besorgungen mitgenommen. Sie mußte nach Hause laufen. Mit dem Auto brauchte man nur eine Viertelstunde, aber zu Fuß – und wenn man krank war – dauerte es unendlich viel länger. Sie schaffte es, indem sie an nichts anderes dachte als an die Wiederholung der immergleichen Bewegung. Über eine Stunde später machte sie die Wohnungstür auf, zu benommen, um auch nur ihr Bett zu finden.
Caroline funkelte sie vom Küchentisch her an, wo eine neue Schnecke in einem Glasgefäß saß und langsam austrocknete.
Robby nahm Ellie am Arm und führte sie ins Schlafzimmer. »Du wirst schon wieder«, sagte er. Er weinte. »Ich mach mir mein Essen selber. Ich tu alles, was du willst.«
»Du bist so ein Rindvieh, Robby. Du sagst alles, wenn du Angst hast«, brüllte Caroline. »Sie tut doch nur so. Sie will uns nur beweisen, wie sehr wir sie brauchen.«
Ellie legte sich komplett angezogen aufs Bett und spürte, wie sich ganze Schweißbäche einen Weg über ihre Haut bahnten. Sie hörte ein Klicken – das Geräusch, mit dem ihr Gehäuse gegen etwas Hartes und Glattes stieß. Sie war allein. Nirgends war Wasser. Ein saftiges Blatt hätte ihr Unbehagen vielleicht gelindert, aber sie konnte keine Blätter finden, weder feuchte noch trockene, und auch keine andere Nahrung. Sie konnte auch keinen Platz finden. Wohin sie sich auch wandte, vor ihr lag eine helle, fugenlose Fläche, die nach sterilem Sand stank.
Caroline kam mit dem Glas in der Hand herein. Ellie sah die Unterseite des Fußes der Schnecke, die über das Glas kroch. Hell und dunkel. Sich bewegende Streifen. Sie wollte, daß Caroline sie freiließ. Sie versuchte es ihr zu sagen, aber sie konnte nicht sprechen, kam nicht vom Bett hoch. Sie konnte nur erschöpft auf dem Glasboden entlangkriechen, sich selbst durch das Glas hindurch anstarren, einen Klumpen stinkendes Fleisch, in schweißgetränkten hellen Stoff gehüllt. Sie kämpfte, um sich von der Schnecke zu befreien. Sie wollte gesund sein, wollte aufstehen und die Wohnung putzen, die Kleider zusammenlegen und Robby das Essen machen. Aber sie kam nicht heraus, so sehr sie sich auch bemühte. O Gott, wie sehr sie sich danach sehnte, draußen zu sein, an einem nassen, dunklen Ort, und von kommenden Nächten zu träumen, von Kopulation und Eiern und jungen Pflanzen.
Caroline nahm den Deckel des Glases ab. Einen Moment lang jubilierte Ellie innerlich. Dann sah sie, was ihre Tochter in der Hand hielt. Es war eine Stecknadel.
Originaltiteclass="underline" ›MOLLUSC DREAMS‹ • Copyright © 1995 by Nancy Etchemendy • Erstmals erschienen in ›Xanadu 3‹, hrsg. von Jane Yolen, Tor Books, Januar 1995 • Mit freundlicher Genehmigung der Autorin • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Robert
Franz Kafka • Deutschland
DIE VERWANDLUNG
I.
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
»Was ist mit mir geschehen?« dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender –, hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.
Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. »Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße«, dachte er, aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der rechten Seite zu schlafen, konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloß die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann.
»Ach Gott«, dachte er, »was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tag aus, Tag ein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!« Er fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf besser heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen weißen Pünktchen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand; und wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber gleich zurück, denn bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer.
Er glitt wieder in seine frühere Lage zurück. »Dies frühzeitige Aufstehen«, dachte er, »macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muß seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben wie Haremsfrauen. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen diese Herren erst beim Frühstück. Das sollte ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen. Wer weiß übrigens, ob das nicht sehr gut für mich wäre. Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef hin getreten und hätte ihm meine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muß. Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn abzuzahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern –, mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings muß ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf.«
Und er sah zur Weckuhr hinüber, die auf dem Kasten tickte. »Himmlischer Vater!« dachte er. Es war halb sieben Uhr, und die Zeiger gingen ruhig vorwärts, es war sogar halb vorüber, es näherte sich schon dreiviertel. Sollte der Wecker nicht geläutet haben? Man sah vom Bett aus, daß er auf vier Uhr richtig eingestellt war; gewiß hatte er auch geläutet. Ja, aber war es möglich, dieses möbelerschütternde Läuten ruhig zu verschlafen? Nun, ruhig hatte er ja nicht geschlafen, aber wahrscheinlich desto fester. Was aber sollte er jetzt tun? Der nächste Zug ging um sieben Uhr; um den einzuholen, hätte er sich unsinnig beeilen müssen, und die Kollektion war noch nicht eingepackt, und er selbst fühlte sich durchaus nicht besonders frisch und beweglich. Und selbst wenn er den Zug einholte, ein Donnerwetter des Chefs war nicht zu vermeiden, denn der Geschäftsdiener hatte beim Fünfuhrzug gewartet und die Meldung von seiner Versäumnis längst erstattet. Es war eine Kreatur des Chefs, ohne Rückgrat und Verstand. Wie nun, wenn er sich krank meldete? Das wäre aber äußerst peinlich und verdächtig, denn Gregor war während seines fünfjährigen Dienstes noch nicht einmal krank gewesen. Gewiß würde der Chef mit dem Krankenkassenarzt kommen, würde den Eltern wegen des faulen Sohnes Vorwürfe machen und alle Einwände durch den Hinweis auf den Krankenkassenarzt abschneiden, für den es ja überhaupt nur ganz gesunde, aber arbeitsscheue Menschen gibt. Und hätte er übrigens in diesem Falle so ganz unrecht? Gregor fühlte sich tatsächlich, abgesehen von einer nach dem langen Schlaf wirklich überflüssigen Schläfrigkeit, ganz wohl und hatte sogar einen besonders kräftigen Hunger.