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»Abends wird sie entlassen«, sagte Herr Samsa, bekam aber weder von seiner Frau, noch von seiner Tochter eine Antwort, denn die Bedienerin schien ihre kaum gewonnene Ruhe wieder gestört zu haben. Sie erhoben sich, gingen zum Fenster und blieben dort, sich umschlungen haltend. Herr Samsa drehte sich in seinem Sessel nach ihnen um und beobachtete sie still ein Weilchen. Dann rief er: »Also kommt doch her. Laßt schon endlich die alten Sachen. Und nehmt auch ein wenig Rücksicht auf mich.« Gleich folgten ihm die Frauen, eilten zu ihm, liebkosten ihn und beendeten rasch ihre Briefe.

Dann verließen alle drei gemeinschaftlich die Wohnung, was sie schon seit Monaten nicht getan hatten, und fuhren mit der Elektrischen ins Freie vor die Stadt. Der Wagen, in dem sie allein saßen, war ganz von warmer Sonne durchschienen. Sie besprachen, bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, die Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, daß diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren, denn aller drei Anstellungen waren, worüber sie einander eigentlich noch gar nicht ausgefragt hatten, überaus günstig und besonders für später vielversprechend. Die größte augenblickliche Besserung der Lage mußte sich natürlich leicht durch einen Wohnungswechsel ergeben; sie wollten nun eine kleinere und billigere, aber besser gelegene und überhaupt praktischere Wohnung nehmen, als es die jetzige, noch von Gregor ausgesuchte war. Während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast unbewußt durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.

Entstanden 1912 • Erstmals erschienen in ›Die weißen Blätter‹ II, Leipzig 1915 • Der Text folgt der 2. Auflage, Leipzig: Kurt Wolf 1918

Michael K. IwoleitDeutschland

DER KELLER

Skoff hatte sich daran gewöhnt, den Wecker klingeln zu lassen. Wenn das Geräusch leiser wurde, drehte er sich um und versuchte weiterzuschlafen. Die Schwere in seinem Körper drückte ihn wie ein Bleigewicht in die Polster. Im Halbschlaf dachte er an seine Arbeit, wollte jeden Moment aufstehen, konnte sich aber nicht überwinden. Heute entschuldigte er sich damit, daß es nichts ausmache, wenn er samstags später anfinge. Gegen neun gab er sich noch eine halbe Stunde, dann eine weitere. Erst um elf war er ganz wach.

Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen fing sich Licht in der staubigen Luft des Zimmers, fiel auf die Karteikästen, Papierstapel und Bücher auf dem Regal, das seinen Arbeitsplatz abteilte. Skoff wischte sich mit der Decke die Feuchtigkeit vom Bauch und spürte Krümel unter den Sohlen, als er die Füße aufsetzte. Wo immer er hinsah, war alles von einer flaumigen Schicht Staub bedeckt.

Die Handtücher im Bad rochen muffig, er selbst nach einer Mischung aus Schweiß und Sperma. Während er nackt vor dem Spiegel stand und seine Erektion zurückging, fragte er sich, ob ihm heute dasselbe bevorstand, was er schon ein dutzendmal erlebt hatte. Sylvia hatte ihm gestern am Telefon erklärt, wo sie jetzt wohnte, und es auf die übliche Weise verstanden, ihn zu überrumpeln. Wenn seine morgendliche Phantasie die Wirklichkeit vorwegnahm, würde er heute abend wieder in ihrem Bett landen. Und er konnte sich vorstellen, was dann in einigen Tagen von ihrer einschmeichelnden Freundlichkeit übrigbliebe, wenn sie ihr Selbstbewußtsein mit der Gewißheit aufgefrischt hatte, daß sie ihn noch immer haben konnte, und ihm erklärte, sie habe an diesem Abend zuviel getrunken, die Sache nicht so ernst genommen, oder was ihr diesmal einfiel. Wie oft wollte sie das wiederholen? Mit klarem Kopf hielt er es für das beste, die Verabredung abzusagen, so schwer es ihm fiel.

Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Bücher und photokopierte Manuskripte, Dutzende unerledigte Aufträge. Als er nach einer Katzenwäsche und einem Frühstück, das sein Mittagessen gleich vorwegnahm, in einer fettverschmierten Pfanne zubereitete Bratkartoffeln, die Seiten neben der Maschine durchsah, suchte er nach einer Möglichkeit, sich vor der Arbeit zu drücken. Der Rest des Originals belief sich auf sechs Seiten, vielleicht elf in der Übersetzung, einen Tag Arbeit. Zum Ende hin wurde die dünne Geschichte immer unerträglicher. Ein Blick auf den Wandkalender erinnerte Skoff daran, daß er schon um Wochen hinter seiner Terminplanung herhinkte. Bis zu seiner Verabredung blieben ihm drei Stunden. Es hatte kaum einen Sinn, noch anzufangen.

Er spannte einen Bogen in die Walze, überflog einen Absatz des Textes, blätterte im Wörterbuch und tippte halbherzig ein paar Zeilen. Nach zwei Sätzen verlor er den Faden, riß die Seite heraus und fing von vorne an. Er wußte nicht mehr, worum es in der Geschichte ging, was der Verfasser sagen wollte, was er selbst hinschreiben sollte. Nach einigen Versuchen, sich zusammenzureißen, stützte er die Ellbogen auf die Maschine, barg das Gesicht in beide Hände und dachte nach. Der Dreck überall, auf dem Teppich, den Regalen, dem Fernseher, an ihm selbst, machte ihn nervös. Er konnte sich in einer solchen Atmosphäre nicht konzentrieren.

Als das Telefon klingelte, hatte er die Termine durchgestrichen und beschlossen, den restlichen Tag zu nutzen, um Ordnung zu schaffen und seine Zeit neu einzuteilen, damit er morgen etwas disziplinierter weitermachen könnte. Aber wie oft hatte er das schon versucht?

Am anderen Ende der Leitung meldete sich Sylvia. Das ersparte ihm die Mühe, sie anzurufen.

»Hör mal, ich habe mir heute das Auto meiner Freundin geliehen. Dann brauchen wir nicht mehr zu überlegen, wie wir die Sachen zu dir rüberschaffen.« Sie redete, als sei das ganz selbstverständlich. Dabei wußten sie beide, daß nach den Monaten, in denen sie nichts voneinander gehört hatten, ihr die Möbelstücke, die noch in ihrer alten Wohnung standen, nur einen Vorwand boten.

»Ich wollte dich selbst gerade anrufen.«

»Was ist? Schaffst du’s heute nicht?«

»Nein. Ich habe noch mal darüber nachgedacht. Ich möchte dich nicht sehen.« Es fügte ihm einen körperlichen Schmerz zu, derart kalt zu sein. Er dachte an die raren Momente, für die er so viel geopfert hatte, Abende und Nächte, in denen zwischen ihnen alles ganz einfach ausgesehen hatte. Aber diese Vertraulichkeit hätte ihm jetzt ebenso widerstrebt. Sie schwieg eine Weile.

»Das mußt du wissen.« Er merkte ihrer Stimme an, daß es sie mehr traf, als sie erkennen lassen wollte. »Aber was machen wir mit deinen Sachen?«