»Laß sie mir vorbeibringen oder wirf sie auf den Müll.« Er bereute es im selben Moment, als er den Hörer auflegte. Die Überzeugung, das Richtige zu tun, hatte nicht verhindern können, daß ihre Stimme in ihm eine Illusion von Zuneigung hervorrief, die, wie er wußte, in eine Situation wie jene münden würde, als sie ihm nach ihrer letzten gemeinsamen Nacht erklärt hatte, daß es einen anderen Mann gäbe. Warum konnte sie nicht damit aufhören, in seinem Leben herumzupfuschen? Den Rest des Tages würde er sich niedergeschlagen fühlen und vielleicht Dinge tun, die er später bereute.
Eine Hand noch am Hörer, blätterte er den Notizblock neben dem Apparat durch und riß entschlossen zwei Seiten mit Telefonnummern und Adressen von Frauen heraus, auf deren Bekanntschaft er künftig auch lieber verzichtete. Sylvia durfte nicht wieder in der Weise auf ihn Einfluß nehmen, daß er sich in seinem Stammlokal zur Ablenkung auf Affären mit Frauen einließ, die am nächsten Tag schon nicht mehr wußten, warum sie etwas mit ihm angefangen hatten, oder mit solchen, die zu betrunken waren, um ihn überhaupt wahrzunehmen. Immer wieder entglitt ihm sein Leben ins Chaos. Immer wieder erwachte er an einem Morgen wie diesem, um festzustellen, daß nichts so lief, wie er es sich vorstellte. Er war jetzt siebenundzwanzig und auf dem besten Wege, sich alle Chancen zu verbauen. So durfte es nicht weitergehen.
Aus einem Fach im Küchenschrank kramte er ein Bündel Plastiktüten, warf in eine die Papierschnipsel und ging durch die Wohnung, um Aschenbecher auszuleeren, Flaschendeckel, Teebeutel und zerrissene Umschläge einzusammeln und alles an Unterlagen, Zeitschriften und Prospekten wegzuwerfen, was er nicht brauchte. Während er dann den Schmutz von Regalen und Fensterbänken wischte und mit dem Staubsauger über Polstermöbel und Teppiche fuhr, ließ er in der Küche in einer Schüssel mit heißem Wasser die Essensreste von drei Wochen einweichen. Ehe er sich an den Abwasch machen konnte, hatte er im Flur sechs Tüten mit Abfällen aufgestapelt.
Von den Vorräten im Kühlschrank war die Hälfte verdorben. Der Frischkäse in den Bechern hatte Schimmel angesetzt, die Milch war sauer geworden, die Salate und Gemüse im untersten Fach zu einer schleimigen Masse verfault. Er nahm sich alle paar Tage vor, sparsamer zu leben, fand aber meist keine Zeit, selber zu kochen, und verpulverte Unsummen für Fertiggerichte, während seine Vorräte darauf warteten, im Müll, Ausguß oder Klobecken zu verschwinden. Er wagte nicht abzuschätzen, wieviel Geld er in den letzten Jahren auf diese Weise verschwendet hatte.
Als er sich vergeblich bemühte, den noch immer strengen, halb fauligen, halb süßlichen Geruch in der Küche zu beseitigen, indem er die klebrige Schicht aus eingetrocknetem Tee und Kaffee, Sojasauce, Sambal, Fett und Gewürzen auf dem Tisch mit Scheuerpulver bearbeitete, ahnte er, was er übersehen hatte. Er mußte den Schrank und die Geräte von der Wand rücken, um festzustellen was sich in dem Zwischenraum an Brot-, Keks- und Kuchenkrümeln, Saucen und Speiseresten angesammelt hatte, eine fingerdicke, bräunliche Masse, an der selbst die Fliegenmaden eingegangen waren. Skoff konnte sie nur mit einem Spachtel entfernen. Um den Boden zu reinigen, verbrauchte er drei Eimer Wasser.
Die Mülltonnen vor dem Haus waren voll, deshalb brachte er die Tüten in den Keller. Sein Abstellraum lag am Ende eines fensterlosen Gangs der nur von einer staubbeschlagenen Glühbirne erhellt wurde. Über den rutschigen Boden führte eine Spur von Farb-, Lack- und Kleisterflecken zu der Lattentür. Schon als er den Keller betrat, bemerkte Skoff den Geruch verrotteter Pappe und Tapeten. Vor der Tür, wo die Luft vor Schimmel und Fäulnis klamm wurde, hielt er einen Moment den Atem an. In den kleinen Raum drang gerade so viel Licht, daß er die Umrisse der Müllbeutel, Eimer und Stapel von Pappkartons erahnen konnte, die er hier im Frühjahr aus Bequemlichkeit untergebracht hatte, als er sich endlich dazu aufraffte, das zweite Zimmer zu renovieren, das seit seinem Einzug vor drei Jahren leer stand. Beim Versuch, seine Augen anzustrengen, schien es ihm fast, als bewegten sich die unförmigen Haufen etwas.
Spinnweben und Ruß hatten das Fenster zum Hof nahezu geschwärzt. Skoff stellte die Plastiktüten, die er in den Armen hielt, an die Wand und tastete sich ins Dunkle vor. Mit den Füßen schob er Lackdosen und Farbeimer beiseite. Mit ausgestreckten Händen versuchte er etwas zu fassen zu bekommen, was er nach hinten werfen konnte, um Platz zu schaffen, aber seine Fingerspitzen berührten nur feuchte, aufgequollene Flächen, fanden nirgends eine Kante oder eine Ecke. Der Lärm aufgedrehter Fernseher und Radios, der durchs Treppenhaus geschallt hatte, verstummte hinter ihm. Skoff warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, daß die Lampe im Flur noch brannte. Mit jedem Schritt schien ihr Licht schwächer zu werden.
Hier, mitten unter den Abfällen, haftete dem Geruch etwas an, das Skoff nicht benennen konnte. Es war nicht die noch immer aus undichten Behältern dringende Schärfe von Terpentin und Lacken, die ihn beunruhigte, auch nicht der modrige Gestank verfaulter Lebensmittel. Die einzelnen Gerüche flossen vielmehr zu etwas zusammen, was am ehesten an rohes Fleisch und Blut erinnerte. Skoffs eigener Atem übertönte das Rieseln und Schaben, das er einige Male zu hören glaubte. Einmal hatte er den Eindruck, ein Stück Pappe ziehe sich unter seiner Berührung zurück, aber er hatte den Karton selbst mit dem Schienbein weggeschoben, ohne es zu merken.
Plötzlich ging das Licht aus. Ein Knall erschütterte die Stille, als die Kellertür zufiel. Skoff hatte das Gefühl, als träfe ihn im Innersten ein Schlag. Er fuhr herum, zog sich am Türrahmen aus dem Dreck, in dem er plötzlich zu versinken drohte, und stürzte auf den Gang. Mit wenigen Schritten, indem er jeweils drei Stufen auf einmal nahm, ließ er die Treppe hinter sich. Erst als er die Klinke herunterdrückte und ins Treppenhaus stolperte, wurde ihm bewußt, daß es keinen Grund zur Aufregung gab.
Über ihm stampfte jemand die Treppe hinauf. Ein Schlüssel wurde im Schloß gedreht und eine Tür zugeschlagen. Die Schnulzen aus dem Radio des Junggesellen im ersten Stock leierten weiter. Es mußte derselbe übereifrige Nachbar sein, der schon oft das Licht ausgeschaltet und die Tür versperrt hatte, als Skoff im Keller beschäftigt war.
Beim Abendessen, für das er alles verarbeitete, was sich noch an Eßbarem in seiner Wohnung befand, fragte er sich, was ihn überhaupt so erschreckt hatte. Seit er immer seltener ausging und froh war, wenn er keine Anrufe erhielt, aus Angst, es könne sein Verlag sein, fühlte er sich hier oben wie eingesperrt. Gelegentlich bedauerte er es, viele Bekanntschaften nur deshalb nicht weiterverfolgt zu haben, um sich Enttäuschungen zu ersparen. Ihm war der Entschluß schwergefallen, sein Stammlokal nicht mehr zu besuchen, und er wußte nicht, wo er sonst hingehen sollte, aber ihn widerte der Lärm an, bei dem er von dem alkoholisierten Gerede seiner Tischnachbarn kaum ein Wort verstand, die Nächte, die er bei Dope und Alkohol in den Wohnungen von Leuten verbrachte, die er nicht mochte, wenn alle Kneipen geschlossen waren. Wieviel Zeit hatte er auf diese Weise schon verloren?
Später schaltete er alle Lampen in der Wohnung und den Fernseher ein und drehte den Ton bis zum Anschlag auf. In Gedanken bei Sylvia, was ihn von Minute zu Minute mehr ärgerte, zog er sich aus und ließ Badewasser ein. Er wußte nicht, welchen Kanal er gerade empfing, er wollte nur Stimmen hören. Als ihm die Discomusik zu aufdringlich wurde, schaltete er wahllos um. Auf dem Bildschirm erschien eine vierköpfige Gesprächsrunde. Einer von den gelehrtenhaften Männern erzählte etwas über Müll, und Skoff lachte. Genau das Thema, das ihn interessierte.
Das eklige Gefühl, von einer millimeterdicken Kruste umgeben zu sein, war er losgeworden, als er nach fünfzehn Minuten aus der Wanne stieg, in der in Flöckchen alles schwamm, was er von sich abgenibbelt und -gekratzt hatte, Dreckkrusten unterm Hals, Hornhaut an den Fußballen, gelbliche Schmiere unter der Vorhaut. Nach einer Kopfwäsche und Rasur nahm er die letzten Korrekturen mit einer Nagelschere vor, und noch einmal drang etwas von dem schweißigen Geruch in seine Nase, als er das Gemisch aus abgestoßener Haut und Dreck unter seinen Fußnägeln hervorkratzte. Im Bettkasten fand er etwas frische Wäsche. Zum erstenmal seit langem stellte ihn sein Anblick im Spiegel schließlich zufrieden. Er spürte, daß er das brauchte. Die Endgültigkeit, mit der er Sylvia abgewiesen hatte, machte ihm noch immer zu schaffen.