»Wir verlieren immer mehr Lebensraum an unseren eigenen Abfall«, erklärte der Müllprofessor, als Skoff sich am Schreibtisch daran machte, einen neuen Terminplan aufzustellen. Wenn er sich diesmal daran hielt, konnte er in drei Monaten alle anstehenden Projekte erledigt haben. Er hörte nur mit einem Ohr hin. »In den modernen Industriestaaten werden durchschnittlich zehn bis fünfzehn Prozent der Fläche zur Müllvernichtung oder -lagerung benötigt. In einigen amerikanischen Großstädten ist die Masse kaum noch zu bewältigen. In den Halden am Rande der Slums gedeihen neue Krankheitserreger, an denen selbst die Ratten zugrundegehen. Wir laufen Gefahr, daß inmitten unserer zivilisierten Welt menschenfeindliche Lebensräume entstehen, über deren Entwicklungen wir keine Kontrolle haben.«
Jetzt, da er sich von dem äußeren und inneren Schmutz befreit hatte, der ihn seit Tagen lahmlegte, spürte er im Bauch dasselbe flaue Gefühl wie jedesmal, wenn er seinen Schmerz wegen Sylvia hinunterzuschlucken versuchte. Er füllte eine weitere Plastiktüte mit den Plänen, die er von der Wand und aus Schnellheftern riß, Aufstellungen seiner Kosten für die nächsten Monate, Listen von Büchern, die er seit Jahren schreiben wollte. Neue Pläne zu tippen, brachte aber die Stimme nicht zum Verstummen, die er noch im Ohr hatte.
»Im mikrokosmischen Bereich bildet unser eigenes Körpergewebe Kondensationspunkte aus, an denen sich die Trägersubstanzen einer konträren Evolution abscheiden. Wir wissen nicht, was in den Ruß- und Teerpartikeln in einer Raucherlunge, den Tröpfchen von Nahrungsgiften in einer Drüsen- oder Leberzelle geschieht, in die aus dem umgebenden Gewebe Vitalstoffe hineindiffundieren. Wir schaffen Milliarden mikrometergroße Enklaven, in denen wir Schadstoffe in unserem Körper deponieren.«
Ein einziger Müllbeutel, ein paar Blätter im Papierkorb genügten für Skoff, um die klare Atmosphäre zu trüben, die er geschaffen hatte. Er zog die Vorhänge zu, damit er nichts mehr draußen sah, und mußte sich zwingen, noch einmal in den Keller zu gehen. Die Geräusche im Treppenhaus waren auf ein kaum vernehmliches Maß abgesunken. Vor der Kellertür zögerte er kurz.
Am Fuß der Treppe konnte er vom anderen Ende des Gangs nichts erkennen. Die blaßgelbe Lampe warf auf halbem Weg nur einen tellergroßen Lichtfleck auf den Boden. In den Leitungsrohren rauschte es leise. Ein leichter Zug bewegte die Luft, ohne daß Skoff ausmachen konnte, aus welcher Richtung er kam. An seinen Fingerspitzen blieb feuchter, fast schleimiger Putz hängen, als er sich an der Wand abstützte. Es roch nach Innereien, Galle und Magensäure.
Mit jeder Lattentür, an der er vorbeiging, wurde der Geruch stärker. Seine Sohlen lösten sich schmatzend von weichen Stellen am Boden, und er bemerkte feuchte Flecken an der Wand. Einige Male tropfte etwas auf seinen Kopf, rann beinahe zielstrebig seinen Nacken hinunter in den Hemdkragen. In den Kellerräumen hörte er Geräusche, als sänken Abfallhaufen in sich zusammen. Er wollte möglichst schnell wieder hinaus, wagte sich aber nur mit äußerster Vorsicht zu bewegen. Die Tüte in seiner Hand wurde immer schwerer. Am Ende des Gangs trat er in eine Pfütze, die nach Erbrochenem stank.
Mit verhaltenem Atem versuchte er sich zu erinnern, wo in dem Gerümpel noch Platz gewesen war. Als er die Tür aufzog, deren Scharniere so laut knarrten, daß er zusammenfuhr, schien der Lichtschimmer auf eine einzige zusammenhängende Masse zu fallen. Er warf die Tüte einfach hinein, aber sie glitt von irgendwo hinunter, ihm wieder vor die Füße. Vor ihm bewegte sich etwas, vielleicht auch neben ihm. Beim ersten Schritt in die Kammer rutschte er aus und prallte mit den Schultern gegen die Wand. Für einen Moment schien es ihm, als würde das lehmige Mauerwerk beben. Halb auf den Knien tastete Skoff nach der Tüte und versuchte sie irgendwohin zu stopfen, aber überall traf er auf denselben zähen Widerstand. Die Plastikgriffe klebten an seinen Händen. Die Lampe im Gang schwang in einem Luftzug an ihrem Kabel langsam hin und her und ließ ihn immer länger in völliger Dunkelheit.
Zuerst hatte er das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben, als die helle Phase völlig ausblieb. Dann verriet ihm das Geräusch einer Klinke, die heruntergedrückt, und eines Schlüssels, der herumgedreht wurde, daß er nicht träumte. Er hörte noch die Haustür zufallen und ein lautes Rauschen, als jemand im ersten Stock den Wasserhahn betätigte, bevor der Luftzug so stark wurde, daß er in seinen Ohren wie ein Seufzen klang.
Ruckartig schreckte Skoff von der Wand zurück. Er wußte nicht, ob er sich nur eingebildet hatte, daß der Putz in seinem Rücken zu pulsieren begann. Der Gestank setzte sich in seiner Nase fest, stieg ihm in den Kopf. In seinem Mund breitete sich ein fader Geschmack aus. Er taumelte hilflos um die eigene Achse und hatte den Eindruck, der Boden geriete ins Wanken. Bis zu den Knöcheln versank er in einer zähen, sich windenden Masse. Als ein Wulst sich um seine Hüfte schloß, wußte er, daß er sich nichts einbildete.
Das Seufzen schwoll an. Der ganze Kellerraum pumpte Luft in den Gang und brachte verborgene Membranen zum Vibrieren. Skoff drohte nach hinten überzukippen und versuchte sich abzustützen. Etwas hatte seine Hosenbeine aufgeweicht und ein Brennen kroch die Waden hinauf. Seine Hände griffen ins Leere, spürten nur die feuchte Luft, die aus einer Öffnung hinter ihm gepreßt wurde. Aus dem Seufzen wurde ein Heulen. Skoff bäumte sich auf, aber er kam nicht frei.
Mit letzter Willensanstrengung versuchte er trotz der Flüssigkeit, die auf ihn herabregnete, und des Gestanks, der ihn zu ersticken drohte, ruhig zu bleiben. Seine Hände suchten nach einem Gegenstand, mit dem er sich hätte verteidigen können, bekamen aber nur die Tüte zu fassen. Ohne lang zu überlegen, warf er sie in den Schlund hinter seinem Rücken. Das Geheul erstarb in einem Glucksen und für einen Moment lockerte sich die Umklammerung.
Skoff wußte später nicht mehr, wie er sich befreite, durchs lärmende Dunkel den Weg zur Kellertür fand und die Treppe hinaufhetzte, um oben die Tür hinter sich zu verbarrikadieren. Noch Minuten später hämmerte sein Herz und rang er um Atem. Als ihm endlich bewußt wurde, daß er mit dem Rücken zur Tür im Korridor hockte, fragte er sich, ob er den Verstand verloren habe. Er lauschte angestrengt, aber im Treppenhaus blieb es still. An seinen Hosenbeinen klebten Papierfetzen. Aus seinem Haar tropfte Feuchtigkeit, aber es war nur Wasser, nichts von dem, was er gespürt zu haben glaubte.
Es beruhigte ihn nicht, daß ihm nur gewöhnlicher Kellergeruch anhaftete. Sein Verstand suchte nach einer einfachen Erklärung, aber etwas in ihm wehrte sich dagegen. Er dachte an die wenigen Sätze, die er von der Fernsehdiskussion mitbekommen hatte, und fragte sich, wieviel unentdeckte Winkel es in seiner Wohnung noch gab, in denen sich Schmutz ansammelte, unter den Teppichen vielleicht, hinter losen Fußleisten oder Tapeten. Was ging in ihm selbst vor? Was war dieses schmerzhafte Ziehen wirklich, das seinen Magen zusammenkrampfte?
Er brauchte eine Stunde, bis er aufstand, seine Kleider in die Wäschetrommel warf und sich im Bad alles vom Körper wusch, was ihm verdächtig erschien. Bis in die Nacht ließ er alle Lampen in der Wohnung brennen, schaltete den Fernseher ein und legte sogar Schallplatten auf. Eine Zeitlang überlegte er, ob er jemanden anrufen sollte, Sylvia vielleicht, aber das hielt er für lächerlich. Gegen Mitternacht beschwerten sich seine Nachbarn durch Klopfen, und er drehte widerwillig den Ton und die Musik leiser. So sehr er sich bemühte, die Handlung des Spätfilms zu verfolgen, es gelang ihm nicht. Um zwei wurde er zu müde, um sich weiter auf den Beinen zu halten. Anfangs versuchte er bei Licht zu schlafen, dann sah er ein, daß er früher oder später doch wieder Dunkelheit vor Augen haben würde.