Zu seiner Erleichterung blieben die Halluzinationen aus, vor denen er sich gefürchtet hatte. Die weichen Polster verhalfen ihm zur Entspannung, so daß er schließlich sogar den Gedanken erwägen konnte, vielleicht nur überreizt oder erschöpft gewesen zu sein. Er wollte nicht darüber nachdenken, in welchem Maße Sylvia daran mitschuld war. Ab morgen würde er einiges in seinem Leben ändern. Es durfte nicht wieder dazu kommen, daß sich ihm die Dinge entwanden, die ihm wichtig waren.
Das einzige, was von der Aufregung zurückblieb, als er an der Schwelle zum Schlaf hindämmerte, war der Schmerz in seiner Magengrube. Er merkte kaum etwas davon, weil mit der Erschöpfung die Schwere vom Morgen in seinen Körper zurückkehrte. Noch geringfügig mehr zerrte der Kloß in seinem Magen an seinen Eingeweiden. Skoff krümmte sich und verschränkte die Arme über dem Bauch, aber die Müdigkeit erwies sich als stärker. Die amöbenartige Masse in seinem Bauch schien zu wachsen und sich auszubreiten. Bevor er ganz das Bewußtsein verlor, hatte Skoff die vage Empfindung, daß sie unter seinen Brustkorb auf sein Herz zukroch.
Copyright © 1996 by Michael K. Iwoleit • Erstveröffentlichung
Astrid Julian • Kanada
IRENES LIED
Es ist kein Geheimnis, daß Ich nicht gut sehe. Mein Auge kann zwar Gebirgszüge durchdringen, ich kann den grenzenlos leeren Raum überschauen und manchmal sogar in die Herzen der Menschen sehen – die Brennweite Meiner Augen aber kann ich nicht verändern. Sie steht fest. Ich muß also immer im richtigen Abstand zu Meinem Objekt positioniert sein: nicht zu nahe, aber auch nicht zu weit von ihm entfernt.
Vancouver ist – wenn Ich das einmal so sagen darf – eine Meiner gelungensten Schöpfungen. Das gilt vor allem im Sommer: Es ist Abend. Die rote Sonnenscheibe versinkt hinter den schwarzen Rändern des Ozeans und zieht eine flammende Spur über die sanft plätschernden Wasser der English Bay. Ich stehe neben den Twin Sisters, den Talengen der Burnaby Mountains genau gegenüber. Bei den Einheimischen heiße Ich Mount Seymour.
Ich muß unbedingt auf diesen Parkplatz, auf dem eben, vor dem Eingang zum Konzertsaal, Irene Janowitz, die Dirigentin, ihrer neunundsechzigjährigen Großmutter aus dem alten MG ihres Vaters hilft. Sie schließt die Tür.
Irene Janowitz hat Angst vor dem Konzert, das ihr bevorsteht. Vor ihrem Konzert in Vancouver, der Stadt, in der sie geboren ist. Nicht daß sie irgendwelche ›Enthüllungen‹ befürchtete – sie bestreitet im Gegenteil ganz entschieden, daß irgendeine der Legenden, die sich um ihr Werk ranken, wahr sein könnte. Ich habe den Verdacht, sie glaubt nicht einmal an Meine Engel. Warum sollte sie also Angst haben, die Engel könnten dahinterkommen, daß sie ihnen die Seelen unschuldiger Kinder geraubt hat, die sie zu sich geholt hatten? Nein – Irene Janowitz fürchtet, daß ihre Mutter, Mari Janowitz, wieder einmal eine Entschuldigung finden wird, um einer Aufführung eines Werks ihrer Tochter fernbleiben zu können.
Irene Janowitz hat ihre Kompositionen in Tokio dirigiert, in Berlin, Sao Paulo und Washington, aber noch nie in Vancouver. Heute abend ist es endlich soweit: sie hat das Konzert nur deshalb in ihrer Heimatstadt angesetzt, damit ihre Mutter es besuchen kann.
Irene trägt ein elegantes Kleid aus schwerem schwarzem Samt, so schwer, daß ich am liebsten ein Pseudopodium ausstrecken und es befühlen möchte. Das Kleid ist schulterfrei geschnitten – eine etwas frivole Garderobe für eine Dirigentin. Aber es paßt zu ihren Sommersprossen. Ihr Haar ist rot wie der Atem eines feuerspeienden Drachen, Irene hat es noch nie gemocht. Aber sie ist viel zu stolz, um es sich färben zu lassen.
Anna Weber, Irenes Großmutter, hält sich am Arm der Dirigentin fest, die beiden gehen langsam, aber unbeirrt über die Straße. Es gab eine Zeit, da schämte sich Irene wegen ihrer Großmutter; schämte sich ebenso sehr, wie sie sich wegen ihrer roten Haare schämte. Sie denkt nicht gerne daran zurück, daß sie sich einmal wegen ihrer Großmutter geschämt hatte.
Als Kind hatte Irene für ihre Großmutter kein Verständnis aufgebracht. Die unbekümmerte Sorglosigkeit, mit der die alte Frau ihr Leben lebte, wie es ihr paßte, war Irene damals als vorsätzliche Rücksichtslosigkeit erschienen. Anna Weber hatte sie alle – ihre Tochter, die Architektin; ihren Schwiegersohn, Professor für englische Literatur an der University of British Columbia; ihre verwöhnte Enkelin – in Verruf gebracht, weil sie nie aufgehört hatte, als Putzfrau zu arbeiten. Die Leute, bei denen sie putzte, wären Freunde, hatte sie behauptet; sich um sie zu kümmern, wäre ihr Freude und Pflicht zugleich. Selbst die nebensächlichsten, belanglosesten Verrichtungen – ob sie nun Petunien pflanzte oder hinter den Fensterscheiben ihres Gewächshauses ihrer Enkelin zusah, die auf der Schwimmbadterrasse Geige spielte – ganz gleich, was Anna Weber tat: Irene hatte es immer, hatte alles als einen Akt rücksichtsloser Einmischung empfunden.
Anna bleibt stehen und horcht auf das Plätschern des Brunnens am Hintereingang des Konzertsaals. Irene hütet sich, die alte Frau zu hetzen. Zu einem wohl verdienten Lebensabend gehört auch die Möglichkeit, sich Zeit zu nehmen, einen Brunnen zu bewundern. Anna tätschelt den Arm ihrer Enkelin: »Keine Sorge, Irene«, sagt die alte Frau, die – auch wenn die Dirigentin kein Wort darüber verloren hat – sehr gut versteht: »Mari, deine Mutter, ist sehr stolz auf dich. Du machst ihr nur manchmal etwas angst. Trotzdem: Sie kommt heute abend. Sie hat es versprochen.«
»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, sagt Irene Janowitz. »Damals, in Wien, hat sie es auch versprochen.«
Erschrocken sehe Ich, wie zwei alte Leutchen auf die Komponistin zugehen. Im ersten Moment glaube Ich, Meine Engel sind Mir gefolgt, sind unterwegs auf nicht genehmigter Visitation. Aber nein: die beiden sind Meine irdischen Kinder.
Die alte Frau trägt einen Strauß weißer Rosen mit grüngeränderten Blütenblättern. »Für Sie, Maestra Janowitz. Ich freue mich auf die schöne Musik, die wir heute abend von Ihnen hören werden.«
Irene lächelt und riecht an den Blumen. ›Barbi’s Summer Field‹ – sie kennt die Sorte. »Darf ich Ihnen meine Großmutter vorstellen, Mrs. Weber? Sie ist die Züchterin dieser Rose. Sie hat sie nach meiner Tante benannt, die im Krieg ums Leben kam.«
»Ich weiß.« Die Frau lächelt scheu und gibt Anna Weber die Hand. Dann stupst sie ihren Gatten. Der Alte stammelt etwas und wird rot.
Janowitz will es ihnen leicht machen: »Wünschen Sie, daß ich eine Passage zum Andenken an ihr Kind hinzufüge?«
»Unsere Tochter.« Wieder stupst die Frau ihren Ehemann. »Rudi! Zeig ihr doch das Bild.« Sie nimmt ihm das Foto aus der Hand und gibt es Irene. »Sie heißt Pauline. Pauline Seefeld. Sie war ein gutes Kind. Hat nie Probleme gegeben mit ihr. Mein Mann war bei der Wehrmacht, hat gekämpft, um Königsberg vor den Russen zu retten. Pauline und ich sind noch bis Breslau gekommen, bevor uns der Feuersturm der Alliierten eingeholt hat. Ich hatte sie in einem Park bei einem alten Mann gelassen, den ich auf der Flucht aus unserem Dorf kennengelernt habe, und bin losgegangen, um etwas zu essen zu organisieren. Der Park war voller Wagen und Handkarren: Tausende von Frauen, die Provianttaschen und Bündel mit Bettzeug zurechtlegten, und noch mehr Kinder, die nach Brot schrien. Ich hab die Bomber gehört und bin so schnell ich konnte zurückgerannt. Aber als ich ankam, war der Park …« Der alten Frau standen Tränen in den Augen. »Schwarz. Alles schwarz. Und still, ganz still.« Sie legt das Bild weg. »Jetzt sind wir allein, Rudi und ich. Es ist nicht einfach, alt und allein zu sein.«