»Es ist nicht deshalb …«, sagt der alte Mann. »Pauline war so intelligent. Und immer hat sie gelacht. Wir hätten ihr eine gute Ausbildung verschaffen können. Sogar ein Universitätsstudium. Sie hätt’ es verdient, zu leben. Armes kleines Ding. Sie hatte nie eine Chance.«
Irene Janowitz schüttelt den Kopf. Warum sind die Menschen so abergläubisch? »Selbstverständlich werde ich ein oder zwei kleine Passagen für Pauline einfügen«, verspricht sie der Frau. »Aber Sie dürfen diese Geschichten nicht glauben. Wie sollte auch ein Musikstück die Toten wieder zum Leben erwecken können?«
Irene Janowitz ist immer gerne bereit, ihr Requiem um die eine oder andere Passage zum Andenken an weitere Kriegsopfer zu ergänzen. Auch wenn die Musiker weltweit murren, weil sie das Requiem vor jeder Aufführung neu einstudieren müssen – das Publikum beschwert sich nie. Menschen, die mit harter Mühe ein oder zwei Noten lesen können, ackern sich durch Partituren, in denen es von Eselsohren wimmelt, und suchen nach den eingemerkten Stellen, den Passagen, die ihren Angehörigen gewidmet sind.
»Genau das hab ich meiner Frau auch gesagt«, meldet sich Mr. Seefeld. »Aber …«
»Sehen Sie, Maestra …«, Mrs. Seefeld schneidet ihm das Wort ab, »unsere Nachbarn sind aus Köln, und sie haben einen Sohn und drei Enkelkinder. Doch manchmal kann ich mich noch an sie erinnern, da hatten sie keine Enkel, und ihr Sohn war kurz nach dem Krieg an Typhus gestorben. Diese Erinnerungen sind alt – sie stammen aus einer Zeit, als ich noch nicht von ihrer Musik gehört hatte. Aber ich schwöre Ihnen, sie sind wahr.«
Der Mann starrt auf den Boden.
»Erwarten Sie bitte nichts Unmögliches.« Janowitz lächelt und schüttelt ihnen die Hand. »Danke für die Blumen«, ruft sie dem alten Paar nach, das zu seinem Auto geht. Dann öffnet sie ihrer Großmutter die Tür zur Bühne.
»Du solltest dich nicht mit Verrückten wie den beiden da abgeben, Irene«, sagt ihre Großmutter, nachdem die Tür zugefallen ist.
»Ach, Omi. Du redest schon wie Mom. Sie sind einsam und vermissen ihre Tochter. Der Kummer stellt merkwürdige Dinge mit den Menschen an – auch noch nach fünfzig Jahren.«
»Du solltest deiner Mama zuhören. Solltest dir ruhig einmal das eine oder andere anhören, das sie zu erzählen hat.«
Irene Janowitz zuckt die Achseln und geht durch den Flur zu ihrer Garderobe. Sie will noch ein letztes Mal die Partitur studieren, bevor die Aufführung beginnt. Sie läßt der alten Frau nicht anmerken, wie sehr sie die Begegnung mit dem Paar verstört hat. Auf früheren Mitschnitten ihres Kriegsrequiems sind Partien zu hören, die ihr vollkommen fremd sind – sie kann sich nicht daran erinnern, sie jemals geschrieben zu haben. Aber das, nimmt sie an, ist wohl nicht verwunderlich bei einem Werk, das ständig um neue Passagen ergänzt und erweitert wird. Was sie viel mehr beunruhigt, ist die Tatsache, daß sie sich an ein drei Seiten langes Solo für Waldhorn erinnern kann. Drei Seiten, die allem Anschein nach nicht vorhanden sind – obwohl sie schwören könnte, dieses Solo schon dutzende Male dirigiert zu haben. Sie könnte auch jederzeit die Namensliste der Solisten niederschreiben, sie hat sie alle noch im Kopf. Sollte sie das tatsächlich alles nur geträumt haben? So plastisch, in allen Einzelheiten? Einmal hat sie deswegen sogar, bevor ihr Agent sie davon abhalten konnte, den Leiter eines Aufnahmestudios angerufen und sich wegen der fehlenden Passagen beschwert. Ich sollte wirklich etwas sorgfältiger mit meinen Arbeiten umgehen, redet sie sich ins Gewissen. Und ist doch beinahe versucht, die Tatsache, daß diese Passagen fehlen, mit jenem Gerücht in Verbindung zu bringen, demzufolge Kinder wieder ins Leben zurückgekehrt sein sollen …
Die Großmutter küßt Irene und geht dann die Treppen hinauf in ihre Loge. Sie begrüßt den Vater der Dirigentin – der Sitz für Mari, die Mutter von Irene, ist noch nicht besetzt. Weil Ich gespannt bin auf die Musik der Janowitz, plaziere Ich eines Meiner transparenten Pseudopodien auf diesem Stuhl.
Das Pseudopodium ist blind. Bedauerlicherweise. Könnte es sehen, bräuchte Mich Meine Kurzsichtigkeit nicht weiter zu kümmern. Aber immerhin kann es hören, kann riechen, spüren und empfinden, was um es herum vorgeht. Mir allerdings bleibt nichts anderes, als von Mount Seymour aus durch die Wände des Konzertsaals zu spähen: die Klarinettisten, sehe ich (wenn auch etwas verschwommen und unscharf), setzen soeben ihre Instrumente zusammen.
»Sie kommt wohl nicht … Oder was denkst du?« fragt Anna Weber den Vater von Irene, Helmut Janowitz.
»Angeblich mußte sie zu einer Besprechung nach Cheyenne. Trifft sich mit dem Repräsentanten der Baufirma, die dort ein neues Einkaufszentrum baut.«
»Du weißt genausogut wie ich, daß Mari in ihrem Garten auf einem Steinbrocken hockt und auf den Ozean starrt – in diesem trostlosen Urwald, von dem sie behauptet, es handle sich dabei um einen Japanischen Garten.«
Als Mount Seymour besitze Ich ein Blickfeld, das auch das Haus der Janowitz umfaßt: Ich sehe eine Frau in den Fünfzigern, helles Haar, die auf das schwarze Wasser hinausblickt, auf das die untergehende Sonne rote Streifen zeichnet. Die Angst, von der sie beherrscht wird, ist so groß, daß sogar Ich sie am eigenen Leibe spüren kann.
»Warte mol. Der erzähl’ ich wos, wenn wir wem heimkummen[1]«, sagt die alte Frau. »Arme Irene. Sie will ihrer Mutter doch nur eine Freude machen – und jedesmal erleidet sie damit Schiffbruch.« Helmut Janowitz versucht, die alte Frau etwas versöhnlicher zu stimmen. »Mari hat Angst davor, mit ansehen zu müssen, daß irgend jemand Irene etwas antut. Sie wird einfach diese typisch deutsche Marotte nicht los: deutsch sein – das ist etwas, das man nicht in die Welt hinausposaunt. Laut Mari ist es etwas, über das man nicht spricht. Wie seine religiöse Überzeugung. Oder wie eine Geisteskrankheit. Hast du gewußt, daß sie sich bei unserer ersten Verabredung als Jugoslawin ausgegeben hat?«
»Aber warum denn bloß? Niemand schlägt sie mehr deswegen. Die Zeit ist vorbei.«
»Schläge sind bald vergessen. Ansichten und Einstellungen halten sich erheblich länger. Und außerdem – so meint Mari wenigstens – werden diese Schläge von den meisten auch heute noch gutgeheißen.« Helmut blättert sein Programmheft auf.
Anna ist jetzt beinahe versucht, ihm den wahren Grund zu nennen, warum Mari, die Mutter der Dirigentin, nicht kommt: Mari glaubt diese Geschichten. Mari glaubt tatsächlich, daß ihre Tochter, die Dirigentin, die Toten wieder zum Leben erwecken kann. Und weil das Kriegsrequiem ursprünglich für Barbara, die andere Tochter der alten Frau, geschrieben wurde, hat Mari entsetzliche Angst davor, daß dieses Requiem Barbara wieder zurückbringt.
Anna hat ihr zwar zu verstehen gegeben, daß sie diese Geschichten für dummen Aberglauben hält. Andererseits aber muß sie ihrem Schwiegersohn durchaus recht geben: das, was Mari in den ersten zehn Jahre ihres Lebens erfahren mußte, hat schlimme Schäden verursacht. Trotzdem: den wahren Grund kann sie Helmut nicht nennen, wenn sie nicht will, daß er all die Lügen erfährt, die sie und Mari aneinander binden.
Anna ist gerührt, daß das Schicksal der seit langem verschollenen Barbara ihre Enkelin zur Komposition eines Requiems angeregt hat. Nur: Barbara ist nicht tot. Nicht für Anna. Vermißt – das ja; aber nicht tot.
Und deswegen hat Anna Irene auch gebeten, alle Passagen zu streichen, die ausschließlich dem Andenken an Barbara gewidmet sind. Sie hat die betreffenden Seiten der Partitur gerahmt und über dem Pflanztisch in ihrem Gewächshaus am Marine Drive aufgehängt. Manchmal scheint es der alten Frau, als zeichnete sich in den schwarzen Linien und Notenköpfen das Gesicht eines kleinen Mädchens ab.
Irene Janowitz, die hinter der Bühne auf ihren Auftritt wartet, empfindet ihrer Mutter gegenüber weit weniger Nachsicht. Barbara, Maris Schwester, war immer die Lieblingstochter von Anna Weber gewesen. Auch Irene hatte immer und immer wieder gehört, was für ein braves Kind die kleine Barbara doch war. Eigentlich nicht verwunderlich, daß Mari, ihre Mutter, eifersüchtig ist … Trotzdem wünscht sie sich nichts mehr, als daß sie sich wenigstens einmal ihre Musik anhören wollte, statt sich durch sie in Angst und Schrecken versetzen zu lassen.