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Auf dem Weg zum Bühneneingang tritt die Dirigentin Janowitz auf den Saum ihres Kleids. Es fehlt nicht viel, und die komplette Partitur rutscht ihr aus der Ledermappe. Wie immer ist sie vor einer Aufführung des Requiems mit den Nerven am Ende – auch das Stimmen der Instrumente ändert nichts daran. Sie sitzt auf den Stufen, die von der Künstlergarderobe zur Bühne führen und ordnet die Notenblätter wieder ein.

Wird schon gutgehen, macht sie sich Mut. Es ist noch jedesmal gutgegangen, wenn die Musik sie einmal ergriffen hat.

Es ist still, als sie auf die Bühne tritt. Sie nickt dem Konzertmeister zu, verneigt sich tief vor dem applaudierenden Publikum und grüßt mit einem weiteren Kopfnicken zur Loge hinauf, in der ihre Großmutter, ihr Vater und Ich sitzen. Sie bedenkt den leeren Stuhl mit einem Blick, der eine Winzigkeit zu lang ausfällt.

Sie senkt den Taktstock, und Kampflärm setzt ein: Pauken, Bässe und Tuben schlagen die letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Dann setzt sich allmählich der Ton einer Flöte durch. Das Instrument intoniert ein Wiegenlied, eine lebhafte, französisch anmutende Melodie: Nanji’s Theme hat Irene sie genannt. Die Geigen fallen ein, schließlich die Bratschen, und bald schon fügt sich Deutscher Ernst zu französischem Elan.

Die alte Frau neben Mir schließt die Augen, als sie das Wiegenlied hört: für sich selbst heißt Anna Weber immer noch ›Nanji‹, das Wiegenlied hat sie immer für ihre Barbara gesungen. Die Musik ruft ihr jene Zeit ins Gedächtnis zurück, als es ihr noch möglich war, zu singen, ohne dabei traurig zu werden.

Lachend, neunzehn Jahre alt, so sieht sie sich in ihrer Erinnerung: lachend umarmt sie ihre Freundin Danitza und gibt ihr einen Gutenachtkuß. Erst als Danitza, die Tochter des serbischen Arztes, bei dem sie als Putzfrau arbeitete, mit ihrem Akkordeon vor ihrer Haustür stand, war Nanji aufgefallen, wie einsam sie gewesen war.

Anfang September 1944 war die letzte Fähre, mit der die Deutschen aus der nordjugoslawischen Provinz Vojvodina evakuiert wurden, über die Theiß gefahren. Wieder einmal hatte Nanji sich überlegt, ob es nicht vielleicht doch unklug war, zu bleiben. Aber Peter, ihr Mann, hatte studiert; er war an der Universität gewesen und wußte in solchen Dingen weit besser Bescheid als sie. Möglicherweise würden die Grenzen verändert werden, hatte er Nanji erklärt; sie bräuchten dann lediglich ihr Ungarisch etwas aufpolieren, und nichts würde ihnen geschehen. Außerdem müßte er wegen seiner leichten Behinderung (Peter hinkte: die Folge einer Kinderlähmung) sowieso nicht befürchten, daß er eingezogen würde – weder von den Tschetniks noch von den Deutschen. Und auch wegen seiner beruflichen Tätigkeit brauchten sie sich keine Sorgen zu machen. Mit seiner Stellung als zweiter Assistent des Kurators am Museum für Geschichte im Dorfbezirk St. Hubertus würde er bei den Kommunisten bestimmt nicht anecken – wie beinahe alle zehn Museumsangestellte rechnete auch er ganz sicher damit, daß er mit seinem Beruf dem neuen Regime nützlich war und deshalb weitermachen konnte.

Die Angst konnte er Nanji damit dennoch nicht nehmen. Allein die Tatsache, daß von allen Bewohnern der umliegenden Dörfer einzig und allein Danitza den Mut aufbrachte, sie zu besuchen … Danitza, die sie eben die von Alleebäumen gesäumte Straße entlanggehen sah. Die Kronen der jungen Bäume waren in Form geschnitten und saßen wie kleine runde Kugeln auf den Stämmen. Als Kind hatte sich Nanji gerne vorgestellt, daß unter der Dorfstraße riesige Pudel lebten. Wenn die Herbststürme durch Charlevil, St. Hubert und Soltur bliesen, durch die Straßen der drei Nachbardörfer, die die Ansiedlung Banatsko Veliko Selo bildeten, dann sah es aus, als wackelten die Pudel mit den Schwänzen – sie freuten sich auf das gute Fressen, das ihnen die Ernte bescheren würde.

An jenem Abend, als Danitza zum letztenmal zu Besuch kam, bewegte sich kein Blatt. Die Bäume hielten ihre Kronen still und unbewegt – wie ein Hund den Schwanz ruhighält, bevor er zubeißt.

Nanji hörte ein Geräusch, einen schnalzenden Knall, als klatschte Leder auf Leder. War es der Storch? Sie sah zum Kamin hinauf.

Meine Engel, denke Ich im ersten Moment: ohne Genehmigung auf Visitation gegangen. Doch dann, wenige Sekunden später, fällt es mir wieder ein: Nanji erinnert sich an den Krieg. Und Krieg, das bedeutet, daß Kinder sterben. Die Engel sind unterwegs, um sie zu sich zu holen.

Nanji war wieder ins Haus gegangen. Im Hinterhof hörte sie die Kuh muhen. Die Melkarbeit hat Peter übernommen, sie konnte sich also in Ruhe dem Besuch ihrer Freundin widmen. Peter hatte so oft über ihre Melkkünste gefrotzelt, hatte ihr vorgerechnet, wie lange sie das arme Tier malträtiere, daß Nanji schließlich – nach zwei Stunden Stichelei – das Mitleid überkam. Mitleid mit der Kuh, nicht mit Peter, der jetzt die Arbeit mit ihr hatte.

Sie zündete eine Lampe an, ging in die Gute Stube[2] und sah nach der schlafenden Barbara. Das Zweijährige trug ein weißes Spitzenhäubchen und verzog das rosige Milchgesichtchen zu einer mißbilligenden Schnute, als es der Lichtschein im Schlaf störte. Nanji blies die Lampe aus und sang leise ein Wiegenlied. Eben jenes Wiegenlied, dem im Augenblick im Konzertsaal in Vancouver Mein Pseudopodium hingerissen lauscht.

Nanji brauchte kein Licht, um das massive Holzbett zu finden. Das Bett, das die Vorfahren ihrer Großmutter vor beinahe zweihundert Jahren in ihrer Heimatstadt Charlevil, in der französischen Provinz Lorraine, gezimmert und mit Schnitzereien verziert hatten. Sie hatte Peter versprochen, sie würde ihm das alte Möbel – sobald sie sich ein modernes Bett für Barbara leisten konnten – für sein volkskundliches Museum überlassen.

Peter war aus dem Stall zurückgekommen, hatte sich zum Abendessen – geräucherter Schinken und Schwarzbrot – an den Tisch gesetzt, da hörte Nanji, wie jemand dröhnend gegen die hölzerne Tür hämmerte. Peter stieß den Stuhl zurück, sprang auf und zog Nanji von der Tür weg, die im selben Augenblick aufflog. Ein russischer Offizier hatte sie eingetreten. Mit gezogener Pistole stand er vor ihnen. Hinter ihm eine junge Serbin, eine Nachbarin aus der nächsten Straße.

Peter und Nanji waren verraten worden. Peter sprach ausgezeichnet serbisch. Kein Serbe – ein Russe schon gar nicht – hätte auch nur die Spur eines verräterischen Akzents feststellen können. Der Russe fuchtelte Peter mit der Pistole vor dem Gesicht herum, gab ihm so zu verstehen, daß er das Haus zu verlassen hätte.

»Kein Angst«, beruhigte Peter seine Frau, als er in seine Stiefel schlüpfte. »Wenn sie feststellen, daß ich nicht beim Militär war, lassen sie mich wieder laufen. Wirst schon sehen.«

Nanji hätte Peter nur zu gerne geglaubt, aber … Als Peter aus dem Haus ging, lief sie hinter ihm her und sah sich um: auf der Straße standen, in zwei Gruppen aufgeteilt, die deutschen Einwohner von Charlevil, Soltur und St. Hubert. Jede Gruppe wurde von einem Trupp Jugoslawen bewacht, von Partisanen, die abgerissene Hosen, britische Militärjacken und deutsche Knobelbechern trugen und mit italienischen Gewehren bewaffnet waren. In der einen Gruppe waren die Handwerker und Ladeninhaber versammelt: der alte, dicke Friseur Klinger; Anton Müller, der Bäcker; Schmidt, der Zimmermann, der Nanji den Kuhstall gebaut hatte, und andere, die sie nicht kannte. Peter wurde der anderen Gruppe zugeteilt: der Gruppe, in der schon Dr. Hoffmann, der deutsche Arzt, die deutschen Grundschullehrer und eine Reihe alter Männer standen, Großväter, die schon seit Jahren im Ruhestand waren.

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Im Original deutsch.