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Nanji lief ins Haus zurück, um Peters Mantel zu holen.

Ein schmächtiger Partisan, ein sechzehnjähriger Junge mit tief dunklem, von der Sonne verbranntem Gesicht, schnappte sich den Mantel und warf ihn sich über die Schulter. »Deutsche brauchen keine Mäntel …« Er sprach Serbisch mit ungewohntem, fremdem Akzent. Und lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht.

Die Männer wurden abgeführt. Nanji sah ihnen nach, bis sie an der nächsten Ecke in eine andere Straße einbogen. Über der Nachbarstadt Kikinda lag ein blendender Lichtglanz, heller als alles, was sie jemals gesehen hatte. Der Widerschein des russischen Granatfeuers, glaubte sie damals … Es waren Meine Engel, die die Gestorbenen heimholten.

Sie rannte ins Haus zurück, verriegelte das Gartentor und schob eine schwere Holzkommode vor die eingetretene Haustür. Das gelbe Licht der Lampe, die sie in die Gute Stube trug, dämpfte die leuchtenden Farben der Blumen und Vogelbilder, mit denen das Bett bemalt war, in dem die kleine Barbara schlief.

Mount Seymour, Kanada.

Wenn Ich die eben geschilderte Episode noch einmal Revue passieren lasse, dann wundert Mich eines: Warum, frage Ich Mich, warum erinnert sich Anna Weber nicht daran, daß sie auch nach Mari, ihrer anderen Tochter, gesehen hat?

Vielleicht erinnern Sie sich noch: Ich hatte eingangs erwähnt, daß Ich in die Herzen und Seelen von Männern und Frauen sehen kann. Daß ich allwissend bin … Genauer gesagt: allwissend sein kann, wenn es Mir gelingt, die Menschen dazu zu bringen, an das zu denken, was Ich kennen muß, wenn Ich etwas wissen soll. Vielleicht ist Mari ja mit gutem Recht eifersüchtig auf Barbara … Ich werde Mir etwas einfallen lassen müssen. Irgendeinen Trick, mit dem Ich Anna dazu veranlassen kann, sich daran zu erinnern, wie Mari als Kind war.

Die Musik dämpft Meine Neugier – heimlich lausche Ich wieder den Gedanken der alten Frau.

Selbst dann, wenn der dumpfe Widerhall weit entfernter Schüsse die friedliche Stille der leisen, ebenmäßigen Atemzüge der kleinen Barbara unterbrach, selbst dann gab Nanji die Hoffnung nicht auf. Nur ein paar Versprengte der deutschen Armee, die aus dem Hinterhalt auf die Russen schießen … Peter und die anderen Mitglieder seiner Gruppe würden die Partisanen bestimmt nicht erschießen. Nicht diese konzentrierte Ansammlung fundierten Wissens und jahrelanger Erfahrung vernichten, die der jungen, noch unerfahrenen kommunistischen Regierung Jugoslawiens nur nützlich sein konnte.

Jetzt, als die Pauken langsam von den Violinen übertönt werden und verstummen, denkt Anna Weber daran, wie die Zeit verging, wie aus Wochen Monate wurden, ohne daß sie etwas von Peter hörte. Wie sie sich ausgemalt hatte, daß Peter in Rußland dem Zauber einer wunderschönen russischen Bäuerin verfallen war, die ihn mit faszinierenden Geschichten von der Baba Jaga unterhielt, jener Großmutter, die den Zarewitsch in ihrem Haus gefangenhielt, das auf riesigen Hühnerbeinen stand.

Anna erinnert sich, wie die Jahre vergingen; wie sehr sie ihm eine zweite kleine Barbara und ein bißchen Glück gewünscht hatte.

Zwölf Jahre lang war Nanji glücklich mit diesen Wünschen, Gedanken und Vorstellungen. Bis sie dann eines Tages, 1956 in Toronto, von der Arbeit nach Hause ging (sie hatte eine Stelle als Putzfrau bei einer Bank gefunden) und in der Bloor Street Anton Müller traf, den Bäcker aus dem Viertel Charleville in Banatsko Veliko Selo, der gerade einen Drugstore betreten wollte.

Anton Müller war in der anderen Gruppe gewesen. Nicht in der Gruppe, der Peter zugeteilt worden war. Die Handwerker und Ladeninhaber hatten als einzige das Massaker der Partisanen überlebt.

Nanji brach im Eingang eines Juweliergeschäfts zusammen, vor der Ladentür, die bereits abgeschlossen war. Fiel mit dem Rücken gegen die hell erleuchtete Glastür, sackte zusammen und lag auf dem Boden: ein Häufchen Elend, das nach Peter schrie.

Passanten starrten sie an, als hätte sie eine unheimliche Krankheit. Keiner erkundigte sich, was ihr fehlte, niemand bot ihr seine Hilfe an. Nanji war froh darüber. Froh und dankbar. Ihr Traum, der jetzt geplatzt war wie eine Seifenblase – es war ein dummer Traum gewesen. Sie hätte sich niemals verständlich machen können. In einem Land, das so jung war wie Kanada, wie hätte irgend jemand in einem solchen Land verstehen können, daß sie zwölf Jahre gebraucht hatte, bis sie endlich zur Einsicht gekommen war, daß sie Peters Stimme nie wieder hören sollte – Peter, der sich darüber beschwerte, daß es so lange dauerte, bis sie die Kuh gemolken hatte.

Die Dirigentin Janowitz blättert die letzte Seite des ersten Satzes um.

Helmut Janowitz, registriere ich, erinnert sich an einen Streit zwischen seiner Tochter Irene und Mari. Anlaß war ein Zeitungsartikel, ein Interview mit der fünfzehnjährigen Irene Janowitz, der jüngsten Bewerberin, die jemals die Canadian Young Composers Competition gewonnen hatte. Irenes Mutter war wütend, weil sich ihre Tochter dem Journalisten gegenüber als Deutsche bezeichnet hatte. Und so war es auch gedruckt worden.

»Sie waren es, die uns das angetan haben: die Kanadier, die Amerikaner und die Briten. Vergiß das nie. An Orten wie Jalta oder Potsdam. Die jugoslawischen Partisanen haben nur ausgeführt, was die Briten und die Amerikaner möglich gemacht haben: sie haben die Verträge unterzeichnet. Wer hat entschieden, daß wir Deutsche sind? Wir nicht! Unsere Familie hat annähernd dreihundert Jahre in Jugoslawien gelebt. Wir sind genausogut Franzosen, wie wir auch Zigeuner und Ungarn sind.

Und im Baltikum? Und in den Teilen Deutschlands, die an Polen gegangen sind … Seit 800 haben Deutsche dort gelebt, seit mehr als tausend Jahren. Auch die, deren Vorfahren französische Hugenotten waren, haben seit dem sechzehnten Jahrhundert in Preußen gelebt … Man hat sie vertrieben. Alle.« Helmut erschrak, als er sah, wie das Gesicht seiner Frau sich veränderte: die grünen Augen wurden glasig, sie sah durch ihn hindurch, als stünde er nicht mit ihr im selben Raum.

»Humane Evakuierung! Frag deine Großmutter, wie human das war! Zwei Millionen Tote. Ein Stück Papier hat uns alle zu Deutschen gestempelt und uns alles genommen: unsere Heimat, unsere Familien … Und niemand hat sich einen Dreck drum gekümmert. Die größte Zwangsvertreibung in der Geschichte der Menschheit. Und? Haben dir die Kanadier in der Schule davon etwas erzählt?«

Helmut Janowitz konnte deutlich sehen, daß seine Tochter nicht wußte, was sie darauf antworten sollte. Üblicherweise sprach ihre Mutter nicht sehr viel, war undurchschaubar, war ihr ein Rätsel – sie hatte sie noch nie so aufgebracht erlebt. Sie wollte ihr nicht weh tun und wußte nicht, wie sie das anstellen sollte. »Was sind wir dann? Österreicher?« fragte sie.

»Österreicher! Diese Arschkriecher, die es sich in ihrem Gedächtnis so bequem eingerichtet haben! Sie lassen sich nicht gern dran erinnern, daß sie einmal in deutschen Uniformen aufmarschiert sind und meinen Vater mit vorgehaltenem Gewehr zum Militärdienst gezwungen haben.« Maris Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, die Irene Angst einjagte. »Und mittlerweile … mittlerweile haben sie es geschafft und die ganze Welt davon überzeugt, daß Beethoven Österreicher und Hitler ein Deutscher war. Und in der Wiener Innenstadt errichten sie den jugoslawischen Partisanen auch noch ein Denkmal! Nein! Wir sind keine Österreicher!«

Schließlich schaltete sich dann ihr Vater ein: »Mari! Sie ist doch noch ein Kind! Warum hörst du nicht auf damit?«

»Kapiert sie denn nicht, daß man über sie lacht? Sie ist um keinen Deut besser als irgendeiner von diesen kanadischen Reportern. Was sage ich: besser! Sie sollte sich schämen! Diese jämmerlichen Kniefälle, um ihren Herrn und Meistern zu gefallen: Seht her: Hab ich nicht brav meine Hausaufgaben gemacht? Schaut doch bloß: Ich bin wirklich nicht das Ungeheuer, für das ihr mich haltet! Natürlich – das war ich einmal. Aber ihr, liebe Kanadier, ihr habt mir die Augen geöffnet und mich vor mir selbst bewahrt. Entwürdigend ist das! Erst nehmen sie dir alles weg, und dann wollen sie dir weismachen, sie hätten es nur zu deinem eigenen Besten getan.«