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»Was soll ihnen das Mädchen denn sonst sagen? Wenn sie die Volkslieder, die sie von ihrer Großmutter gelernt hat, als Themen in einer Symphonie verwendet?«

»Sie ist in Kanada geboren. Warum sagt sie also nicht, daß sie Kanadierin ist. Alles andere geht diese Schnüffler nichts an. Das kommt davon, wenn man zuläßt, daß die Alte sie Samstag für Samstag in die deutsche Schule schickt.«

Irenes Vater zuckte die Achseln, drehte sich um und sah das Mädchen an: »Von jetzt ab bist du Kanadierin. Hast du verstanden?«

Irene nickte. Sie hatte ihre Mutter nicht ärgern wollen.

Irene Janowitz hebt wieder den Taktstock. Die Geigen intonieren eine anmutig luftige russische Melodie, die zunehmend melancholischer wird, als eines nach dem anderen die tieferen Streichinstrumente einfallen.

An dem Tag, als Peter abgeführt wurde, ging Nanji früh am morgen aus der Guten Stube – vorsichtig, um die kleine Barbara nicht zu wecken. Arbeiten würde ihr das Warten auf eine Nachricht von Peter leichter machen. Sie zog ihre ältesten Schuhe, ein Paar abgetragene Hosen von Peter und einen dünnen Pullover an, ging in den Garten und flocht frische Knoblauchbünde zu langen Zöpfen, die sie dann in der Speisekammer aufhängen wollte.

Ein Junge, ein Knirps noch, stürmte durch das Gartentor. »Raus!« schrie er. Das Gewehr, das er trug, war größer als er selbst … Aber Nanji hatte die vergangene Nacht noch nicht vergessen, das Dröhnen der Schüsse hallte ihr noch in den Ohren.

»Ich muß erst das Baby holen«, sagte sie auf Serbisch.

»Nein. Nix Baby!« schrie der Junge.

Sie hätte sich nicht um ihn gekümmert, wenn ihn nicht im gleichen Augenblick ein russischer Feldwebel zur Seite geschoben hätte und in den Garten gekommen wäre. Er steckte Nanji die Pistole in den Mund. Sie hatte den Geschmack von Maschinenöl auf der Zunge, den Geschmack von Stahl. Schweißtropfen traten ihr auf die Stirn, liefen ihr in die Augen, brennend, beißend. Sie roch Schwefel, den Geruch von abgebranntem Schießpulver. Den Tod, der noch frisch war.

»Dawai!« brüllte der Russe schließlich. Sie schloß die Augen, Tränen quollen unter den Lidern hervor. Er hatte nicht vor, sie zu töten. Sie nickte und folgte ihm wortlos. Was hätte Barbara davon, wenn sie sterben würde?

Draußen, auf der schlammigen Straße, stieß Nanji zu einer Gruppe Frauen und Mädchen. Deutsche wie sie. Auf dem Bürgersteig hinter ihnen stand Danitza Milovic, Nanjis serbische Freundin. Sie zeigte auf Nanji. Ihr Vater könne ohne Putzfrau nicht arbeiten – sie stritt sich mit dem russischen Hauptmann. Der Offizier stieß Danitza mit dem Gewehrkolben in die Seite – sie lag im Straßendreck. Die Soldaten lachten. Der Feldwebel empfahl ihr, sie sollte lieber selbst lernen, wie man mit einem Besen umgeht.

Als sich Nanji hinter den anderen Frauen einreihte, sprach sie leise den kurzen Vers vor sich hin, den sie immer flüsterte, wenn sie an einem bissigen Hund vorbeigehen mußte. Sie änderte allerdings den Wortlaut – vielleicht konnte sie dadurch die Russen dazu bringen, sie noch einmal zurückgehen und Barbara holen lassen: »Russ, aldr Russ, bleck de Zäh, daß ich newe dranner kann gea …«[3]

Noch bevor die Kolonne der Frauen die wenigen Kilometer bis zur rumänischen Grenze zurücklegt hatte, löste sich die Sohle an Nanjis linkem Schuh. Sie ersetzte sie durch eine alte Zeitung, die am Straßenrand lag. Sie hielt zwei Stunden. Nanji riß einen Stück von ihrer Baumwollbluse ab und wickelte es um den Schuh – der Stoffetzen machte ihr zwar das Gehen auf dem spitzen Straßenschotter leichter, hielt aber Regen und Schnee nicht ab … Platsch, Auf Wiedersehen; Platsch, Auf Wiedersehen … Mit jedem Tritt in Schlamm und Matsch wurde sie daran erinnert, daß sie Barbara zurückließ.

Und Mari? wundere Ich Mich. Warum denkt sie nicht an Mari?

Nanji wurde in einen Güterwaggon gesteckt, in dem es kein Fenster gab, keinen Ofen. Die Toilette: ein Loch im Boden. Kein Wasser, um sich zu waschen, schon nach wenigen Tagen die erste Typhustote. Andere, die der Infekt verschonte, starben einen langsameren Tod. Sie erfroren.

Nach drei Tagen gab man Nanji einen verbeulten Blechnapf: Heißes Wasser, in das die russischen Soldaten eine Kartoffel warfen. Manchmal schwamm in ihrer täglichen Heißwasserration keine Kartoffel, sondern ein Klumpen Zucker. Auch wenn sie halb verhungert war – es würgte sie, sie erstickte fast daran, wenn sie an die kleine Barbara dachte, die in der Guten Stube aufwachte, und keiner war da, der sie fütterte.

Die Frau neben Nanji hatte drei Kinder zurückgelassen. Sie brüllte sie an: »Du hilfst der Kleinen nicht, wenn du verhungerst, Nanji. Also iß, trink und denk an den Tag, an dem sie dich wieder nach Hause lassen!«

In Vancouver, im Konzertsaal, wischen die Besen über die Becken, zischen im monotonen Rhythmus der Räder, die über endlose Schienenstränge rollen, Hunderte von Kilometern weit. Nach neunzehn Tagen war die Fahrt zu Ende, der Zug hielt in einem Güterbahnhof im Ural. Die Frauen wurden aus den Waggons geholt. Die Ukrainer, die die Leichen abtransportierten, spuckten Nanji vor die Füße, machten einen weiten Bogen um sie und fluchten: »Dreckige Nemetzki!«

Nachdem sich ihre Augen an das Tageslicht gewöhnt hatten, wußte sie auch warum: Nie im Leben hatte sie einen verdreckteren Haufen Frauen gesehen. Und erst der Gestank … Selbst im Viehstall des faulsten Bauern hatte es nicht so scheußlich gestunken.

Janowitz hat den Musettewalzer für ihr Requiem deshalb geschrieben, weil das Akkordeon das Lieblingsinstrument ihrer Mutter ist. Der Klang der Ziehharmonika verzerrt und verformt das Wiegenlied, verwandelt es in ein Klagelied.

Am selben Tag noch rückte Nanji in eines der Lager des Gulag ein. Die Wärter ließen sie ihre Kleider in eine Metalltonne werfen. Sie wurden verbrannt. Nanji badete – eine Wohltat, auch wenn das Wasser kalt war. Eine Krankenschwester filzte ihr langes schwarzes Haar, es wimmelte von Läusen.

Pizzikati: die Geiger zupfen rasende Läufe.

Nanji hatte nicht mehr geglaubt, daß sie, nachdem sie Peter und Barbara verloren hatte, noch zu irgendeiner Gefühlsregung fähig sein könnte. Doch als ihr die Krankenschwester den Kopf scherte, weinte sie. Lisa, ihre Großmutter, hatte immer gesungen, französische und deutsche Lieder gesungen, wenn sie Nanji die Haare zu festen Zöpfen flocht.

Nanji wurde abgeführt. Wurde mit den anderen Frauen, die nackt waren wie sie, in ein enges Zimmer gebracht, in dem drei Ärzte an einem Tisch saßen und bereits auf sie warteten. Einer dieser Ärzte trat vor sie hin, kniff sie in den Oberarm und zwickte sie in den Hintern. Dann schrieb er etwas auf ein Blatt Papier und reichte den Zettel an einen Sanitäter weiter. Der Sanitäter händigte ihr eine wattierte Jacke, eine Hose und Gummistiefel mit Filzeinlagen aus.

An Barbaras drittem Geburtstag ging Nanji zum erstenmal in die Kohlegruben. Zwölf Stunden stand sie Tag für Tag in eiskaltem Wasser, sortierte Kohlen und verlud sie auf Handkarren. Die Arbeiterinnen in den Kohlegruben wurden naß bis auf die Haut und waren ständig erkältet. Nanji aber hielt durch. Hätte sie sich bei den Aufsehern krank gemeldet, wäre sie in ein mit Wasser gefülltes, niedriges Loch unter der Baracke gesperrt worden. Dort hockten die Kranken während der Arbeitszeit auf einem Eisenrost, nur wenige Zentimeter über dem Wasser. Die Russen nannten es Das Krankenhaus.

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3

So im Original (»Russ’, alter Russ’, bleck die Zähne, damit ich vorbeigehen kann.«)