Zwei Wochen lang durfte Nanji, nachdem der Arzt sie untersucht hatte, in der Küche arbeiten. Es war eine leichte Arbeit, und sie kam wieder etwas zu Kräften. Einmal – der Koch hatte ihr gerade den Rücken zugewandt – stahl sie drei Heringsköpfe und ein paar Kartoffelschalen aus dem Abfalleimer.
Nanji stand oft kurz davor aufzugeben. Jeden Tag zwang sie sich, aus dem Bett zu steigen und sich zu waschen. Die Frauen, die noch am Leben waren, hatte alle ihr bestimmtes Ritual, das ihnen half durchzuhalten. Die Ostpreußinnen rissen ihre Witzchen über die Moskauer Modefirma Stalin, die ihre elegante Arbeitskleidung schneiderte. Die Unterhosen, die diese Modeschöpfer lieferten, hätten einem dreihundert Pfund schweren Mann gepaßt. Es war nicht ihre Schuld – die wässrige Kohlsuppe war schuld: sie ließ die deutschen Frauen einfach nicht zu solch stattlichen Dimensionen heranwachsen.
Die Pommerinnen beteten während der Arbeit.
Nanji sang die Lieder, die ihre Großmutter Lisa gesungen hatte – sie mußte überleben, damit sie sie Barbara beibringen konnte. Niemand würde sie sonst mehr singen.
Im Winter wurden die Baracken mit einem kleinen Ofen geheizt. Nur in den Schlafkojen, die in der vordersten Reihe und unmittelbar neben ihm standen, war zu spüren, daß der Ofen auch Wärme abstrahlte. In der Hauptsache aber verräucherte er nur die Baracken und ganz besonders die oberen Etagen der Stockbetten. Trotzdem wollte Nanji lieber dort oben schlafen als in den zwei unteren Etagen, wo einem die Kakerlaken Wimpern und Augenbrauen wegfraßen.
Wenn sie nachts pinkeln mußte, kroch sie die oberen Pritschen entlang, bis sie an das Holzfaß an der Tür kam – begleitet von den Flüchen und Verwünschungen der Schläferinnen, über die sie hinwegkletterte.
Wenn eine von ihnen starb, und wenn Nanji sie verscharren mußte, brach sie mit einer Spitzhacke den gefrorenen Boden auf. Sie versuchte es zumindest. Aber kaum hatte sie ein paar Zentimeter Erde weggescharrt, da verließen sie die Kräfte. Mehr ging nicht – es mußte eben genügen.
Barbara war vier, als Nanji zu husten begann. Nach der Untersuchung eröffnete ihr der Arzt, daß sie nach Hause könne. Der Zug kam auch tatsächlich an. Er brachte sie allerdings nicht nach Hause, sondern zum Ernteeinsatz in eine Kolchose. Auch dort starben die Menschen. Aber trotzdem hatte es Nanji hier besser: Die Aufseherinnen, die die deutschen Frauen jeden Morgen aufs Feld brachten, waren so alt wie sie, und mittlerweile sprach sie verhältnismäßig gut Russisch. Die russischen Frauen nannten sie Nimki – ihr deutsches Schätzchen. Sie steckten ihr etwas von dem Obst und Brot zu, das sie mit Genehmigung der Genossenschaft in kleinen Proviantspeichern entlang des Wegs einlagern durften, und schärften ihr ein, mit niemandem darüber zu sprechen. Nimkis mit Lebensmitteln versorgen – darauf standen fünf Jahre Zwangsarbeit.
An manchen Tagen war es so heiß, daß allein das Atmen zur Schwerarbeit wurde. Trotzdem war die Kolchose besser für sie als das kalte und feuchte Bergwerk. Tagsüber pflanzte sie Kartoffeln, nachts schlich sie sich aufs Feld zurück und grub sie wieder aus. Sie aß sie roh. Schlang sie gierig hinunter und nahm sich kaum die Zeit, die giftigen Triebe abzubrechen, um nur ja den Bauch vollzukriegen, bevor sie möglicherweise jemand entdeckte.
Eines Morgens – es war in dem Jahr, als Barbara sechs wurde – blieb das Pfeifsignal aus, das die Insassen des Bergwerkslagers zur Arbeit weckte. Acht Tage lang blieb es aus. Die Lagerinsassinnen erhielten eine Extraration Verpflegung, wurden in ein anderes Lager verlegt, in dem Matratzen auf den Schlafpritschen lagen, und Nanji erhielt neue Kleidung. Am Ende der Lagerstraße, in einem Sektor, der mit einem hohen Zaun abgesperrt war, waren deutsche Kriegsgefangene einquartiert.
Tagsüber mußten die Insassinnen nähen, und abends führten die Kriegsgefangenen russische Theaterstücke auf – Tschechow etwa, in deutscher Übersetzung. Es gab Kostüme, es gab ein Bühnenorchester, es waren großartige Inszenierungen.
Drei Wochen lang war Nanji in diesem Lager. Das Rote Kreuz kam zu Inspektionsbesuchen, Abordnungen der UN, und die eine oder andere Insassin erhielt Päckchen und Briefe von zu Hause.
Für Nanji war nichts dabei.
Dann wurde sie wieder verlegt. Kam in ein anderes Lager, arbeitete im Straßenbau und hob Entwässerungsgräben aus. Um zwei Kubikmeter – ihr Tagessoll – zu schaffen, mußte sie in den meisten Fällen bis spät in die Nacht arbeiten.
Nach einem Jahr – ihr Husten war inzwischen eher noch schlimmer geworden – brachte man Nanji auf einen Verschiebebahnhof. Mit mehreren anderen Frauen trat sie auf dem Bahnsteig an, um eine Ansprache zu hören, in der ihnen – auf Russisch – versichert wurde, die Sowjetunion würde die deutschen Frauen nie vergessen (dicke Krokodilstränen rollten dem Redner dabei über die Wangen), die durch schwere Arbeit einen wichtigen Beitrag leisteten und der UdSSR dabei halfen, die durch den Krieg verursachten Schäden und Mängel wieder zu beheben und zu überwinden.
Und was ist mit meiner Barbara? Mit den deutschen Kindern? Nanji hätte am liebsten geschrien.
Zu ihrer Überraschung wurde sie dann tatsächlich zu einem Güterzug geführt, der sie nach Hause bringen sollte.
Doch als sich der Zug dann in Bewegung setzte und in Richtung Norden abfuhr, schrie sie vor Entsetzen. Nach Hause: das hieß für die Russen Deutschland. Nicht Jugoslawien.
Sieben Tagen dauerte die Fahrt. Nach sieben Tagen kamen sie in Frankfurt an der Oder an. Furcht und Elend packten sie, Nanji krümmte sich, als sie die Lautsprecher schnarren hörte: »Achtung, Achtung. Bahnsteig bitte räumen. Die Kriegsverbrecher aus dem Osten treffen ein.« Sie war Bäuerin gewesen, Putzfrau, hatte im Bergwerk gearbeitet und als Totengräberin, war Köchin gewesen, Diebin und Arbeiterin im Straßenbau. Jetzt war sie eine Kriegsverbrecherin aus dem Osten, und die Ostdeutschen wurden angewiesen, den Bahnsteig zu räumen, um zu verhindern, daß sie sich infizierten, wenn sie mit ihr in Kontakt kamen.
Maestra Janowitz gibt das Zeichen zum Einsatz. Die nächste Passage ist impressionistisch, atonaclass="underline" ein Tongemälde des vom Bürokratismus geprägten zwanzigsten Jahrhunderts.
Trotz der Lautsprecherdurchsagen räumten nicht alle die Bahnsteige, erinnert sich Anna Weber. Sie erinnert sich an ein Meer von Fremden: Fremde, die nach Gesichtern suchten, die sie schon beinahe vergessen hatten.
Auf Nanji wartete niemand.
Einmal hörte sie Schritte hinter sich – ein Bremser, der die Waggontüren kontrollierte.
Die Dirigentin blättert die Seite um.
Ich fühle, wie sich die Erinnerungen der alten Frau an jenen Moment, als sie aus dem Zug stieg, trüben, wie die Bilder verschwimmen. Wie an ihre Stelle wieder jenes andere Bild tritt: das Meer der fremden Menschen, die nach kaum mehr erinnerten Gesichtern forschen.
Niemand wartete auf Nanji.
Einmal hörte sie Schritte hinter sich. Es war ein Engel des Herrn.
Er stand am Zugende, neben dem letzten Waggon, und das Federkleid seiner Flügel verstrahlte ein grausam helles, weißes Licht. »Ich überbringe dir eine Botschaft des Himmels.« Langsam schwebte er auf sie zu.
Mashhit war es, der Engel der verstorbenen Kinder – durch Raum und Zeit unterwegs in nicht autorisierter Visitation. Im ersten Augenblick fürchte Ich, Meine Engel hätten das Geheimnis der Musik von Irene Janowitz entdeckt. Aber dann werde ich gewahr, was Mashhit noch gesagt hat:
»Der Himmel hat dich verschont. Er hat dir dein Martyrium erspart. Aber dafür mußt du jetzt bezahlen. Du wirst einen Enkelsohn haben. Doch nie sollen seine Lippen eine Trompete berühren, nie darf er die Kenntnis der Notenschrift erwerben noch die Fähigkeit, ein Instrument zu spielen.«
Ein Enkelsohn! Welch selbstgerechte, voreingenommene Geschöpfe Meine Engel doch sind! Maestra Janowitz ist noch eine kleine Weile außer Gefahr.